Die Maya-Midgard-Mission
verzichten zu wollen. Das Leben auf Grand Karaiba hatte nichts mit Beschränkung zu tun. Es drehte sich nicht um Verzicht, um Selbstkasteiung oder Askese. Es ging um das Ausschöpfen des Möglichen, ohne die Grenzen des Machbaren zu überschreiten. Im Gegensatz zur blinden Konsumwut einer Massengesellschaft verloren die Kamkin einen Maßstab nie aus den Augen: die Zukunft ihrer Kinder, die in der Gegenwart be-gann. Es ging nicht darum, dass die Kinder es in einer illusorischen Zukunft einmal besser haben sollten als ihre Eltern, doch sie besaßen wie jedes lebende Wesen ein unausgesprochenes Anrecht auf gleiche Bedingungen. Die Spaßgesellschaft, als deren Tochter Flavia aufgewachsen war, interessierte sich zumeist nur für das individuelle Wohlergehen, war unfähig, über die eigene Nasenspitze hinauszusehen. Dank ihrer Studien und persönlichen Erfahrungen wurden Flavia die Ursachen für die zivilisatorische Grundkrankheit zusehends bewusster: Das Streben nach materieller Sicherheit entsprang dem Bedürfnis, die physische Welt verstehen, begreifen zu wollen. Das Verstehen brauchte der entmythologisierte, religiös desillusionierte Mensch, um seine Ängste, die oft älter waren als seine irdische Existenz, zu bekämpfen. Der Wiederaufbau nach dem II. Weltkrieg hatte dieses Bedürfnis noch verstärkt. Und erst langsam, ganz allmählich entwickelten sich bei vielen Menschen neue Fragen, die aus neuen Quellen entsprangen, die ebenso uralt waren wie die materiellen: die spirituellen. Vieles verstand Flavia noch nicht. Wie konnten die Kamkin die Zukunft ihrer Kinder sichern, wenn nicht auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Übereinkunft? Und wie konnten sie diese Abmachung einhalten, ohne sie jemals schriftlich oder in Form von Gesetzen oder Regeln formuliert zu haben? Und schließlich: wie konnte dieser stillschweigende Konsens funktionieren? Ohne Finanzmittel. Eigentlich doch nur mit Gebur-tenkontrolle... Es gab noch unendlich viel zu lernen. Aber zuvor mußte sie beobachten. Sehen, Begreifen, Verstehen. Flavia formulierte im Geiste fleißig an ihrer Habilitation.
Sie wusste, dass Baldini ihr auch ohne eine qualifizierte Arbeit mehr als nur diese Chance schuldig war. Aber sie wollte gute Arbeit leisten; sie interessierte sich für die Menschen; sie war neugierig auf alternative Lebensführung. Sie beabsichtigte, eine Arbeit zu schreiben, die die Fachwelt in Erstaunen versetzen würde. Und die Kamkin Indianer wollten ihr behilflich dabei sein. Sie hatte schon alles mit Palika, dem Häuptling, besprochen. Dieser schlanke, groß gewachsene Mann verströmte eine ernsthafte Würde, die Flavia nachhaltig beeindruckt hatte. Nebenbei sah er auch noch unverschämt gut aus. Seine klugen, braunen Augen, das blauschwarze Haar des Kamkin, die kräftige Hakennase, seine blendend weißen Zähne, seine Vitalität, in die er sich zu kleiden schien wie andere sich in einen Designer-Anzug hüllen, sein höfliches aber bestimmtes Auftreten und das jähe Aufblitzen eines unerwarteten Mutterwitzes machten ihn attraktiv und ließen ihn älter wir-ken, als er war. Flavia hatte nun mal diese Vorliebe für reife Männer. Mit der Handy-Generation, dem Lambretta-Lover und dem gestelzten Gucci-Gigolo an der heimischen Uni konnte sie nichts anfangen. Palika war ein völlig anderes Kaliber. Sie schätzte den Häuptling auf Mitte bis Ende Dreißig – durchaus innerhalb ihrer Reichweite. Die Gelegenheiten würden sich ergeben.
Flavia di Fulminosa würde Grand Karai bas erste Inselschreiberin werden. Und ihre eigene Chronik könnte sie dann später als Basis für die Habilitation verwenden und auswerten. Wahrscheinlich würde sie auf Baldini und seine ewig-geile Interpretation von Gönnerschaft gar nicht mehr angewiesen sein. Ein paar besonders "reziproke Affinitäten" fielen ihr ein, aber sie konnte sich nur noch schütteln bei der Erinnerung. Das war vorbei. Und es machte ihr nichts aus. Er hatte sie im Stich gelassen, und nun würde sie ihn verlassen. Sollte er sich eine neue Willige suchen, die bereit war, Liebes- und andere Dienste ohne Murren zu erledigen. Flavia di Fulminosa würde ihrem Namen auch ohne professorale Protektion alle Ehre – akademische eingeschlossen – machen. Grand Karaiba war das ideale Studienobjekt dafür.
Die Inse lgesellschaft bot eine bunte Infrastruktur. Es gab ein kleines Bio-Labor und mehrere Handwerksbetriebe. Eine Medizinfrau kurierte ihre Patienten mit europäischem Doktorgrad und dem Standard zweier
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