Die Maya-Midgard-Mission
Kialu wollten ihnen nachfolgen, sobald sie die Lage in ihrem künftigen Zuhause gepeilt hatten. Acht Stunden Klettertour über Stock und Stein lagen hinter ihnen. Nur Domnall verfügte über geeignetes Schuhwerk. Daria und Virginia trugen Sportschuhe, und Carlos Caldera kühlte die Blasen, die er seinen edlen Slippern verdankte, im sprudelnden Nass jenes Bachs, der sich kristallklar und angenehm kühl in Kaskaden an den felsigen Hängen des Cornucopia hinabstürzte. Ein meterbreiter Wasserfall versperrte den weiteren Weg an der Steilwand entlang zur Bergspitze und seine Schleier, die im Gegenlicht der wiedergekehrten Karibiksonne wie Regenbogentänzer umeinander wirbelten, verwehrten ihnen den Blick auf Auroras höchsten Punkt.
" Wir gehen ein Stück zurück", sagte Daria als Führerin der kleinen Gruppe. "Vielleicht lässt sich aus einem anderen Blickwinkel ein Umweg erkennen."
Carlos Caldera hatte beide Füße im perlenden Wasser gekühlt und streifte nun seine S ocken wieder über. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er schaute zu dem Wasserfall, der ihnen den Weg versperrte und folgte der Spur, die das Wasser im Gestein hinterlassen hatte. "Ich möchte das Testament von diesem Deutschen noch mal sehen", rief er, um das Brausen der fallenden Wasser zu übertönen. "Ich glaube, es verrät uns, wie wir weiter kommen.
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Hier, das ist die Stelle: 'Benetze dich mit Wasser, und Du wirst immer trocken bleiben. Werde zu Stein, und Du wirst ewiglich lebendig sein. Gehe ins Dunkel, und Du wirst immerwährendes Licht finden.' Wenn ihr dem fallenden Wasser von der Sturzkante bis zum Eintauchen in den kleinen See mit euren Röntgenaugen folgt, was seht ihr dann?"
" Wasser, was sonst", sagte Virginia Gluth und band sich ihre wilde, rote Mähne zu einem Pferdeschwanz.
" Aber hinter dem Wasser?", beharrte Caldera.
" Felsgestein, mit Moos und Flechten bewachsenes Gestein", ergänzte Domnall O'Domhnaill.
" Unglaublich!", sagte Daria Delfonte und hielt sich die Zeiss-Linse, die sie im U-Boot gefunden und später sorgfältig gereinigt hatte, vor ihr linkes Auge. "Der Mann verfügt über schlummernde Talente. Hat tatsächlich die nächste Nuss geknackt. Das Gestein neben dem Wasserfall wird nach oben zur Abbruchkante hin deutlich heller. Aber die Felswand hinter dem Wasser wird nach unten dunkler, obwohl das Wasser weiß schäumend in den kleinen See sprudelt."
" Was schließt du daraus?", fragte Domnall.
" Dahinter ist eine Höhle", sagte Carlos Caldera. "Ich wette, dass wir die Bücher heute noch finden. Wer hält mit?"
" Worauf warten wir?", sagte Daria und wickelte sämtliche Papiere in das Wachspapier des Kapitänleutnant Steinhardts. Dann hielt sie den Rucksack so weit wie möglich über ihrem Kopf und watete durch den See in den Wasserfall hinein. Die anderen folgten ihr.
" Hier sind Stufen, die reinste Unterwasser-Treppe!", rief Daria bis zur Hüfte im Wasser über ihre Schulter, nachdem sie den Vorhang aus schäumendem Nass durchquert hatte. "Vier Stufen!"
Domnall O 'Domhnaill konnte sich ein hastiges Kreuzzeichen und einen letzten Blick zurück ins Tageslicht nicht verkneifen. Dann ging er wie Caldera und Gluth ins Dunkel, um das Licht der Sechsten Sonne zu finden. Unter dem Fall benetzte er sich mit dem prickelnden Wasser, wusch sein Gesicht, löste sein Haarband, schüttelte die weiße Mähne und strich sie zu einem neuen Zopf zusammen. Anschließend stieg er über die vier Stufen ins Trockene eines aufsteigenden Schachts, der in sauberer Steinmetzarbeit mitten durch den Felsen hindurch getrieben worden war. Wie eine Wendeltreppe ohne Stufen wand der Schacht sich in Spiralen und sanft ansteigendem Winkel nach oben. Unter Domnalls schweren Sohlen knirschte es leise. Er bückte sich und griff mit der Hand in den Bodenbelag. Tausende kleiner Splitter.
" Das ist kein Felsboden unter unseren Füßen", sagte der große Ire.
" Muschelkalk, zerstampfter Muschelkalk. Benutzten die Maya als Straßenbelag", kam es von ganz vorne.
Bald darauf stießen sie in immer undurchdringlicherer Dunkelheit auf weitere Stufen. Langsam tasteten sich die vier Abenteurer voran.
Daria zählte laut mit: "Einhundertvierundvierzig!", sagte sie schließlich und ließ mit einem Pfeifen als Zeichen ihrer Anspannung eine Brise Atemluft zwischen gespitzten Lippen entweichen. "Keine Stufe mehr. Ich taste mit meinem Fuß. Fester Grund. Kein Muschelkalk. Stein. Kann keine Wände sehen. Licht. Ich brauche Licht. Ich denke, wir sollten unsere Fackeln
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