Die Maya-Midgard-Mission
entzünden. Nur zwei für den Anfang."
Das flackernde Licht selbstgebastelter Fackeln erhellte einen rech teckigen Raum, dessen gegenüberliegendes Ende von ihrem Standort aus nicht zu erkennen war. Im Gegensatz zum Mittelschiff einer christlichen Kirche, waren nirgendwo Säulen oder Stützpfeiler zu sehen. Dafür war der Boden mit einer Armee von steinernen Bäumen bedeckt. Dutzende, nein Hunderte von Stelen. Ein ganzer Wald von Steinbäumen, wie nur die Maya sie erschufen. Ein Wald mit Bäumen voller Gesichter. Jede einzelne Stele zeigte Gesichter. Gesichter voller Ausdruckskraft, voller Emotionen. Gesichter mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Gesichter mit Grimassen. Gesichter bedeckt mit Masken. Lachende und weinende Gesichter. Gesichter von Menschen, Gesichter von Tieren. Gesichter von Phantasiegeschöpfen im Freudentaumel. In Stein gemeißelte Schaffenskraft. Monumente der Lebendigkeit. Denkmäler der Lebenslust. Ein Wald der großen Gefühle. Der kleinste Steinbaum größer als der große Ire. Mit offenstehenden Mündern starrten die vier Abenteurer auf ihre Entdeckung.
Daria versuchte über die Spitze der steinernen Bäume hinweg zu s ehen. In den strengen geraden Linien spitzwinkliger Dreiecke strebte die Decke wie ein gigantisches Cäsarenzelt zu einem höchsten Scheitelpunkt außerhalb ihrer Sicht. Die Gruppe verharrte immer noch wie vom Blitz getroffen bewegungslos am Eingang des unterirdischen Zauberwalds. Rechts und links des Treppenaufgangs, an der kurzen Stirnwand der Halle, hoben sich in ihren satten Farbtönen deutlich sichtbar die Fresken eines Maya-Malers vom gekalkten Hintergrund ab. Beinahe wären Domnall und Virginia vor Schreck zurückgewichen. Die Gesichter von Göttern, Gnomen und Naturgeistern wurden vom Licht- und Schattenspiel der flackernden Fackeln zu grellen Fratzen verzerrt. Auch hier beseelte das Licht die Figuren von festlich gekleideten, feiernden Menschen. Dadurch gewannen sie Konturen und Tiefe und begannen sich zu bewegen.
Daria folgte den Fresken mit Kennerblick. Sie hatte als Vorbereitung für diese Expedition die berühmten Wand- und Deckenbilder von Bonampak ausgiebig studiert, um sich in die Denkweise der Maya hi neinversetzen zu können. Jetzt kamen ihr diese Kenntnisse zugute. Anhand ihres Federschmucks erkannte sie eine kleine Schar von Edelleuten, die offenbar zwei Priestern Opfertiere – zwei truthahnähnliche Vögel – für den Opferaltar im Zentrum eines Bildes darboten. In den Ecken endeten die Fresken und wurden an den langen Wänden von Reliefen abgelöst, die nicht aus dem Fels heraus gearbeitet zu sein schienen, sondern eher mit zuvor behauenen Gesimsplatten auf den Untergrund aufgetragen worden waren. Die mannshohen Bilder in der rechteckigen Ausstellungshalle unter dem Gipfel des Tonatu mussten unter den geschickten Händen eines wahrhaft begnadeten Bildhauers entstanden sein. In leuchtenden Gelb-, Rot- und Grüntönen zeugten sie von der phantasievollen Vielschichtigkeit ihrer Schöpfer. An ihren oberen und unteren Rändern wurden diese Reliefe von Symbolleisten gerahmt. Es dauerte nur Sekunden bis Daria den Kornkreis aus dem Brief jenes mysteriösen Mayatzlan – den Dolinenbrunnen der Maya – und die Spirale identifizieren konnte.
" Ein Maya-Comic!", unterbrach Caldera als Erster das ehrfürchtige Schweigen. "Ein gottverdammter Comic-Strip. Ihre Bücher sind nicht mehr und nicht weniger als Comic-Strips. Jede Wand ein Spielfilm, jeder Baum eine Pointe. Ich bin beeindruckt, Gnädigste. Sie haben Recht behalten. Diese Maya waren ihrer Zeit weit voraus."
" Da kann ich Ihnen nur zustimmen, Carlos. Aber lassen Sie sich nicht von den wunderschönen Fresken, Mosaiken und Reliefen blenden. Die sind Beiwerk. Filigran, einfach phänomenal, aber Zuckerguss. Unser Kuchen versteckt sich in den schmalen Leisten über und unter den Bildhauerarbeiten. Die Spirale, können Sie sie sehen? Die Spirale ist Symbol für die Kreisläufe des Lebens, für das Licht, für die Sechste Sonne. Und dieses Symbol dort, es ist die Maya-Glyphe für einen Dolinenbrunnen, vielleicht das Lebenswasser, ein solches Bild wurde mir als Signum für die Fundstätte der Bücher angekündigt, lange bevor ich etwas von unserer Odyssee ahnte."
" Was bedeuten all diese Bilder, diese Bäume?", fragte Domnall und strich behutsam mit den Fingerspitzen über die dreidimensionalen Ornamente auf einer Stele in seiner Reichweite. "Nichts als Zuckerguss? Glaubst du das wirklich?"
" Ich vermute
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