Die Maya-Midgard-Mission
Kuppel über ihrem Haupt; und sie selbst war ein winziges, zerbrechliches Geschöpf, aber trotzdem Teil dieser ungeheuren Schöpfung; ein Rädchen, ohne das das Gefüge anders laufen würde. Sie fühlte sich eins mit der Unendlichkeit und die Kostbarkeit des Augenblicks kreierte Schwingungen in ihr. Töne. Ganze Sequenzen. Sie hörte die Töne nicht nur, sie fühlte sie gleich sanften Fingerspitzen, die sie streichelten. Sie konnte sie sehen, schimmernd wie Edelsteine, wie in Kristall gebundenes Licht. Ja, die Natur war der geniale Komponist dieser Töne und ihr Körper das Instrument, auf dem das Echo aller sinnlichen Empfindungen Melodien spielte. Daria war euphorisch und begriff nun Kautskys Überschwang.
" Dort ist sie!", rief ihr Galan und deutete mit ausgestrecktem Arm Richtung Sonnenuntergang. Dann öffnete er eine bereitgestellte Flasche Champagner und füllte zwei Gläser.
" Auf die Inseln des Morgenrots!", rief Daria.
" Auf die Schönheit!", sagte Kautsky und errötete.
Über dem Bugsteven tauchte Darias Robinson-Archipel aus den Fl uten auf: 17 Tupfen goldgesäumten Grüns im blausten Blau. Landgewordene Götterträume, geboren aus Meeresschäumen. Südseevisionen, die jedem Klischee spotteten. Die Freude perlte in ihr wie der Champagner im Glas. Und die würzige Seeluft wich einem samtigen Duft, der die Ankömmlinge umschmeichelte wie ein Parfum, ein Gemisch aus tausend Aromen, ein karibisches Konglomerat.
Daria drehte sich in den Wind und atmete tief ein. Wäre sie ein Pferd gewesen, hätte sie ungeduldig mit den Nüstern gebläht. Sie glaubte die schwere Süße von Hibiskus und Frangipani zu erschnuppern. Das bittersüße Aroma von Vanille und Kaneel. Oder war es Nelkenpfeffer? Oder Ingwer? Was immer die Luft derart mit Wohlgerüchen sättigte, es duftete paradiesisch. Ihre Augen folgten dem Flug eines Fregattv ogels. Der majestätische Schlag seiner Schwingen trug ihn hoch empor in die brausenden Lüfte. Von dort oben musste er eine atemberaubende Rundumsicht haben. Daria verschlang die Umgebung mit all ihren Sinnen: das azurne Meer mit seinen Zuckerguss- und Wattebauschkronen, den salzigen Geschmack von Gischt, das heisere Geschrei der Möwen und Fregattvögel, das gleißende Licht, die mit Gerüchen nach Gewürzen gesättigte Luft, das Prickeln des Champagners – sie konnte nicht länger unterscheiden, ob sie hörte oder sah, ob sie schmeckte oder fühlte oder roch. Es war ein einziger Sinnes-Rausch.
Kautsky reichte Daria ein Fernglas. Begierig presste sie ihre Augen an die Okulare. Der hüpfende Korken am Horizont war Aurora, der Hort der Sechsten Sonne. Ein schmaler Streifen goldgelben Sandes fiel sanft zum Meer hin ab. Mit gierigen, grünen Zungen leckte die Vegetation am Strand. Thymian, Basilikum und Zitronenkraut umsäumten die Küste Auroras. Dieser Pflanzenteppich war gelbrot gesprenkelt mit Hunderten Bananenblüten. Hier und da reckte eine Kokospalme dem Himmel ihr exotisches Haupt entgegen; vielhundertfingrig suchten die Luftwurzeln von Feigenbäumen Halt im lockeren Erdreich. Daria kannte den Baum aus anderen subtropischen Gegenden der Erde, war aber jedes Mal wieder fasziniert von seinen besonderen Wurzeln: es sah aus, als habe ein übereifriger Naturfreund die Äste des Baumes mit einer Unzahl von Seilen am Boden festgezurrt, damit ihn der nächste Hurrikan nicht hinwegfege. Daria wusste, dass man diesen Luftwurzeln die Namensgebung der bekannten Nachbarinsel Barbados zuschrieb: die Insel der Bärtigen.
Hinter den lichten Reihen der Kokospalmen wurde das immer noch blütenbetupfte Grün dichter. Der riesenhafte Schatten eines Mang obaumes spendete einem Schwarm von Insekten Schutz vor der brennenden Sonne. Daria glaubte über das Brandungsrauschen und den tuckernden Dieselmotor hinweg fremdartige Vogelstimmen zu hören. Ein Kolibri mit smaragdgrüner Brust schwirrte in den Blütenkelch eines Bri-Bri-Baumes hinein und vertrieb einen Schmetterling. Daria verfolgte den Flug des schwarzrotgold schillernden Schmetterlings. Der Falter drehte drei aufgeregte Runden um den Mango- und den Bri-Bri-Baum und flatterte dann mit wildem Flügelschlag in Richtung Sonne davon. Wann immer er aus dem Schatten in einen Sonnenstrahl eintauchte, konnte man eine Spur purpurner Stäubchen erkennen, die er wie eine Fahne hinter sich herzog. Erschöpft ließ er sich schließlich auf einer Orangenblüte nieder und verharrte minutenlang wie erstarrt. Der kleine Orangenhain war der letzte lichte Ort vor
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