Die Mayfair-Hexen
ein Viertel, manchmal die Hälfte von dem, was sie ihr gaben. Das sagte Michael wenigstens. Sie sah nicht hungrig aus. Aber sie war blaß und still, und wenn sie die Hände bewegte, dann zitterten sie.
Die ganze Familie kam sie besuchen. In Gruppen schritten sie über den Rasen und verhielten sich zurückhaltend, als ob sie sie verletzen könnten. Sie sagten Hallo, erkundigten sich nach ihrer Gesundheit. Dann sagten sie, sie sehe schön aus. Das stimmte auch. Und dann gaben sie auf und gingen wieder.
Mona beobachtete das alles.
Nachts würde Rowan schlafen, als sei sie erschöpft, sagte Michael, als habe sie hart gearbeitet. Sie badete allein, auch wenn er sich ängstigte. Aber sie schloß immer die Badezi m mertür ab, und wenn er versuchte, bei ihr zu bleiben, dann stand sie einfach nicht von ihrem Stuhl auf, schaute ins Leere, rührte sich nicht. Er mußte hinausgehen, bevor sie aufstand. Dann hörte er, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte.
Sie hörte zu, wenn die Leute etwas sagten, anfangs zumindest. Und wenn Michael sie anflehte, mit ihm zu sprechen, drückte sie hin und wieder warm seine Hand, als wolle sie ihn trösten oder ihn beschwören, Geduld mit ihr zu haben. Es war ein trauriger Anblick.
Michael war der einzige, den sie berührte oder zur Kenntnis nahm.
Ihr Haar wurde wieder voll. Es färbte sich sogar ein bißchen blond, weil sie immer in der Sonne saß. Als sie im Koma gel e gen hatte, hatte es die Farbe von Treibholz gehabt, wie man es an schlammigen Flußufern findet.
Jeden Morgen stand Rowan aus eigenem Antrieb auf. Lan g sam kam sie die Treppe herunter, hielt sich mit der Linken am Geländer fest, stützte sich mit der Rechten auf ihren Stock, den sie fest auf jede Stufe setzte. Es schien sie nicht zu kü m mern, ob Michael ihr half. Wenn Mona ihren Arm nahm, war es ihr gleichgültig.
Ab und zu blieb Rowan vor ihrer Kommode stehen, bevor sie herunterkam, und legte etwas Lippenstift auf.
Mona bemerkte das immer. Manchmal wartete sie in der Diele auf Rowan, und dann sah sie, wie Rowan es tat. Es hatte e t was zu bedeuten, bestimmt hatte es etwas zu bedeuten.
Auch Michael machte immer eine Bemerkung darüber. Rowan trug Nachthemden und Negliges, je nach Wetter. Tante Bea kaufte sie, und Michael wusch sie, denn Rowan zog neue S a chen nur an, wenn sie gewaschen worden waren; so hatte er es wenigstens in Erinnerung.
Dies ist kein katatonischer Stupor, dachte Mona bei sich. Und die Ärzte hatten das auch gemeint, aber sie konnten nicht sagen, was ihr dann fehlte. Einmal hatte einer von ihnen – ein Idiot, hatte Michael erklärt – ihr mit einer Nadel in die Hand gestochen, und da hatte Rowan die Hand ruhig weggezogen und mit der anderen bedeckt. Michael hatte einen Wutanfall bekommen. Aber Rowan hatte den Kerl nicht angeschaut und kein Wort gesagt.
Was fühlte Rowan? Woran erinnerte sie sich? Niemand kon n te es mehr mit Sicherheit sagen. Sie hatten nur Michaels Wort; er hatte ihnen erzählt, daß sie aus dem Koma zu vollem B e wußtsein erwacht war, daß sie noch Stunden danach mit ihm gesprochen hatte, daß sie genau wußte, was passiert war, und daß sie im Koma alles gehört und verstanden hatte. E t was Schreckliches war geschehen am Tag ihres Erwachens. Noch einer. Und beide zusammen lagen begraben unter der Eiche.
»Ich hätte nie zulassen dürfen, daß sie es tat«, hatte Michael hundertmal zu Mona gesagt. »Der Geruch, der aus dem Loch kam, der Anblick dessen, was da übrig war… Ich hätte das alles selbst erledigen müssen.«
Wie hatte der andere ausgesehen? Wer hatte ihn heruntergebracht? Und was hatte Rowan genau gesagt? Allzu oft hatte Mona ihm diese Frage gestellt.
»Ich habe ihr den Lehm von den Händen gewaschen«, hatte er Aaron und Mona erzählt. »Sie hat sie immer wieder angesehen. Ich nehme an, eine Ärztin will keine schmutzigen Hände haben. Wenn man bedenkt, wie oft ein Chirurg sich die Hände wäscht. Sie hat mich gefragt, wie es mir ginge, sie wollte…« Und dann hatte es ihm die Kehle zugeschnürt, beide Male, als er die Geschichte erzählt hatte. »Sie wollte meinen Puls fü h len. Sie machte sich Sorgen um mich!«
Gott, ich wünschte, ich hätte gesehen, was sie da begraben haben! Ich wünschte, sie hätte mit mir gesprochen!
Es war so überaus seltsam – jetzt reich zu sein, die designie r te Erbin mit dreizehn Jahren, einen Fahrer zu haben und ein Auto und dauernd Geld im Portemonnaie, und haufenweise neue Kleider, und Leute, die das alte
Weitere Kostenlose Bücher