Die Mayfair-Hexen
fasziniert.
Yuri konnte seinen Tee nicht anrühren. Ebenso hätte er den Urin dieses Mannes trinken können.
»Aus dem indischen Dschungel«, sagte Stuart und nahm einen Schluck von seiner eigenen Tasse, in die er einen großzügigen Schuß Whisky geschüttet hatte. »Ich weiß nicht, woher. Ich kenne Indien nicht. Ich weiß nur, daß die Eingeborenen erzählten, sie sei schon immer da gewesen und von Dorf zu Dorf gewandert. Vor dem Krieg sei sie zu ihnen gekommen; sie spreche Englisch und werde nicht älter, und die Frauen in den Dörfern hätten Angst vor ihr.«
Die Whiskyflasche stand mitten auf dem Tisch. Michael Curry hätte gern etwas davon getrunken, aber er konnte die Getränke, die Gordon ihnen anbot, ebenfalls nicht anrühren. Rowan Mayfair saß mit verschränkten Armen da. Michael Curry hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er saß näher bei Stuart und versuchte offensichtlich, aus ihm schlau zu werden.
»Ich glaube, es war eine Fotografie, die ihr zum Verhängnis wurde. Jemand hatte das ganze Dorf fotografiert, alle zusammen. Irgendeine furchtlose Seele mit einem Stativ und einer Plattenkamera. Und sie war auf dem Bild gewesen. Einer der jungen Männer entdeckte das Bild unter den Habseligkeiten seiner Großmutter, als die Großmutter starb. Ein gebildeter Mann. Ein Mann, den ich in Oxford unterrichtet hatte.«
»Und er wußte von der Talamasca?«
»Ja. Ich habe meinen Studenten nicht viel über den Orden erzählt – nur denen, die den Eindruck machten, als wollten sie…«
»Diesen jungen Männern beispielsweise«, sagte Yuri.
Er sah, wie das Licht in Stuarts Augen einen Satz machte, als sei die Lampe gehüpft und nicht Stuart zusammengezuckt.
»Ja, diesen jungen Männern beispielsweise.«
»Was für jungen Männern?« fragte Rowan.
»Marklin George und Tommy Monohan«, sagte Yuri.
Stuarts Gesicht war wie erstarrt. Er hob seine Teetasse mit beiden Händen zum Mund und trank einen großen Schluck.
Der Whiskey roch eklig wie Medizin.
»Waren sie es, die Ihnen dabei geholfen haben?« fragte Yuri. »Das Computergenie und der Lateinstudent?«
»Ich trug die Verantwortung«, sagte Stuart, ohne Yuri anzusehen. »Wollen Sie hören, was ich zu sagen habe, oder nicht?«
»Sie haben Ihnen geholfen«, sagte Yuri.
»Ich habe über meine Komplizen nichts zu sagen.« Gordon schaute Yuri eiskalt an und richtete den Blick dann wieder ins Leere, in die Schatten an den Wänden.
»Es waren die beiden Jungen«, sagte Yuri, obwohl Michael versuchte, ihn mit einer Gebärde zurückzuhalten.
»Und was ist mit Joan Cross oder Elvera Fleming oder Timothy Hollingshed?«
Stuart reagierte mit einer ungeduldigen Geste des Abscheus auf diese Namen; ihm war kaum klar, wie man dies in bezug auf die Jungen würde deuten können.
»Joan Cross hat nicht einen Funken Romantik im Leibe«, sagte er plötzlich. »Timothy Hollingshed hat man immer überschätzt, einfach seiner aristokratischen Herkunft wegen. Und Elvera Fleming ist eine alte Närrin! Stellen Sie mir diese Fragen nicht mehr. Ich werde mich nicht dazu verleiten lassen, über meine Komplizen zu sprechen. Ich werde mich nicht dazu verleiten lassen, sie zu verraten. Dieses Geheimnis werde ich mit ins Grab nehmen, da können Sie sicher sein.«
»Dieser Freund«, sagte Ash mit geduldiger, aber überraschend kalter Miene, »dieser junge Mann in Indien, der hat Ihnen also geschrieben, Mr. Gordon.«
»Er hat mich angerufen, genauer gesagt, und mir erzählt, er habe ein Geheimnis für mich. Er meinte, er könne sie mit nach England bringen, wenn ich sie übernähme, sobald sie hier wäre. Sie scheine wahnsinnig zu sein, und dann wieder nicht. Niemand könne sie richtig verstehen. Sie spreche von Zeiten, die den Menschen in ihrer Umgebung unbekannt seien. Und als er Erkundigungen über sie eingezogen habe, um sie vielleicht nach Hause zu schicken, da habe er festgestellt, daß sie in dem Teil Indiens eine Legende sei. Ich habe das Ganze protokolliert. Ich habe unseren Briefwechsel. Es ist alles hier. Im Mutterhaus sind Kopien. Aber die Originale sind hier. Alles, was mir teuer ist, befindet sich in diesem Turm.«
»Sie wußten, was sie war, als Sie sie sahen?«
»Nein. Es war ungewöhnlich. Ich war verzaubert von ihr. Irgendein selbstsüchtiger Instinkt beherrschte mein Handeln. Ich brachte sie hierher. Ich wollte sie nicht mit ins Mutterhaus nehmen. Es war höchst eigenartig. Ich hätte niemandem erzählen können, was ich tat oder warum ich es tat – von
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