Die Mayfair-Hexen
vielleicht sogar ein melodramatischer Wahnsinniger, aber dumm ist er nicht. Wir werden Stuart nicht finden, und wir werden auch Tessa nicht rinden.«
»Was sollen wir dann tun?« fragte Tommy. »Alles aufgeben? Bei dem, was wir wissen?«
»Nein. Wir verschwinden von hier. Wir fahren zurück nach Regent’s Park. Und wir denken nach. Wir denken über etwas nach, das sehr viel wichtiger ist für uns als alles, was die Talamasca uns zu bieten hat.«
»Nämlich?«
»Wir denken über die Mayfair-Hexen nach, Tommy. Wir gehen Aarons letztes Fax an die Ältesten noch einmal durch. Und wir studieren die Akte, wir studieren sie aufmerksam und durchforschen sie nach Hinweisen darauf, wer aus diesem Clan für unsere Zwecke am wichtigsten sein könnte.«
»Du überstürzt die Sache«, sagte Tommy. »Was willst du denn machen? Ein paar Amerikaner entführen?«
»Das können wir hier jetzt nicht erörtern. Wir können nicht alles planen. Paß auf, ich warte, bis diese verdammte Zeremonie anfängt, aber dann verschwinde ich. Bei der ersten Gelegenheit bin ich weg. Du kannst ja später nachkommen, wenn du willst.«
»Sei nicht albern«, sagte Tommy. »Ich habe kein Auto. Ich muß mit dir kommen. Und was ist, wenn Stuart zur Zeremonie wieder da ist? Hast du daran schon gedacht?«
»Stuart kommt nicht wieder her. Dazu ist er zu vernünftig. Hör zu, Tommy, mein Entschluß ist unumstößlich: Ich bleibe bis zum Anfang der Zeremonie. Ich erweise ihnen meine Verehrung, ich plaudere mit ein paar Ordensgenossen, und so weiter. Und dann bin ich weg! Und dann, dann kommt mein Rendezvous mit den Mayfair-Hexen, und Stuart und Tessa können zum Teufel gehen.«
»Also gut. Ich komme mit.«
»Das ist besser. Das ist intelligent. Das ist mein praktisch denkender Tommy.«
»Dann schlaf jetzt ein bißchen. Sie haben nicht gesagt, wann sie uns rufen. Und du bist derjenige, der fahren muß.«
19
Im obersten Raum des Turmes saß Yuri am runden Tisch und starrte in die Tasse mit dem dampfenden chinesischen Tee, die vor ihm stand. Der Verurteilte selbst hatte den Tee zubereitet. Yuri wollte ihn nicht anrühren.
Sein ganzes Leben in der Talamasca hatte er Stuart Gordon gekannt. Unzählige Male war er mit Gordon und Aaron essen gewesen. Sie waren zusammen durch die Gärten spaziert, hatten sich gemeinsam nach Rom zurückgezogen. Aaron hatte so frei und offen mit Gordon gesprochen. Die Mayfair-Hexen, die Mayfair-Hexen, die Mayfair-Hexen. Und nun war es Gordon.
Der Verräter.
Warum brachte Ash ihn jetzt nicht um? Was hatte der Mann zu geben, das nicht vergiftet wäre, nicht verdreht von seinem Wahnsinn? Es stand so gut wie fest, daß Marklin George und Tommy Monohan seine Helfershelfer gewesen waren. Aber in diesem Punkt würde der Orden die Wahrheit schon herausfinden. Yuri hatte von der Telefonzelle im Dorf aus mit dem Mutterhaus gesprochen, und schon der Klang von Elveras Stimme hatte ihn in Tränen ausbrechen lassen. Elvera war treu. Elvera war gut. Yuri wußte, daß sich die breite Kluft, die sich zwischen ihm und dem Orden auf getan hatte, schon wieder schloß. Wenn Ash recht hatte und die Verschwörung nur auf einen kleinen Kreis begrenzt gewesen war, dann mußte Yuri nur Geduld haben. Er mußte Stuart Gordon zuhören. Denn er würde der Talamasca übermitteln müssen, was er heute abend erfahren würde.
Geduld. Aaron würde es so wollen. Aaron würde wollen, daß die Geschichte bekannt würde, daß sie aufgezeichnet würde für andere. Und Michael und Rowan – hatten sie nicht auch ein Recht auf die Tatsachen? Und Ash, dieser geheimnisvolle Ash. Er hatte Gordons Verrat aufgedeckt. Wenn Ash nicht in der Spelling Street aufgetaucht wäre, hätte Yuri Gordons Unschuldsbeteuerungen und den paar törichten Lügen, die er ihm im Coffeeshop erzählt hatte, Glauben geschenkt.
Ash saß auf der anderen Seite des Kreises. Seine monströsen Hände lagen gefaltet auf der Kante des alten, unbearbeiteten Holztisches. Er beobachtete Gordon, der rechts neben ihm saß. Er haßte Gordon wirklich; Yuri sah es daran, daß in seinem Gesicht etwas fehlte, ein Ausdruck von Mitgefühl vielleicht? Die Zärtlichkeit, die Ash sonst gegen jedermann, absolut jedermann zeigte.
Rowan Mayfair und Michael Curry saßen rechts und links neben Yuri, Gott sei Dank. Er hätte es nicht ertragen, in Gordons Nähe zu sein. Michael war der Zornige, der Mißtrauische. Rowan war von Ash fasziniert. Yuri hatte es vorausgesehen. Aber Michael war bis jetzt noch von keinem
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