Die Mayfair-Hexen
Schildpattbrille war ihm bis auf die Spitze der runden Nase hinuntergerutscht.
»Tommy, die Glocke.«
Marklin richtete sich auf und strich seinen Anzug glatt, so gut er konnte. Er kletterte vom Bett und schüttelte Tommy an der Schulter.
Einen Augenblick lang hatte Tommy diesen verblüfften, verärgerten Ausdruck des eben Erwachten; dann kehrte sein Menschenverstand zurück.
»Ja, die Glocke«, sagte er ruhig und fuhr sich mit den Händen durch das unordentliche rote Haar. »Endlich, die Glocke.«
Sie wuschen sich nacheinander das Gesicht. Marklin nahm ein Kleenex, schmierte etwas von Tommys Zahnpasta darauf und putzte sich mit dem Finger die Zähne. Er hätte sich auch rasieren müssen, aber dazu war keine Zeit. Sie würden nachher nach Regent’s Park fahren, sich alles holen und mit der nächsten Maschine nach Amerika fliegen.
»Urlaubsschein, zum Teufel damit«, sagte er jetzt. »Ich bin dafür, daß wir einfach verschwinden. Ich will nicht noch mal in mein Zimmer, um zu packen. Ich bin dafür, sofort loszufahren. Zum Teufel mit der Feier.«
»Sei nicht albern«, sagte Tommy. »Wir sagen, was wir zu sagen haben, und wir werden erfahren, was wir erfahren können. Und dann reisen wir ab – wenn es sich gehört und nicht weiter auffällt.«
Verdammt!
Es klopfte.
»Wir kommen schon!« rief Tommy und zog leicht die Brauen hoch. Er zog sein Tweedjackett zurecht; er sah zerzaust und erhitzt aus.
Marklins Wollblazer war arg zerknautscht. Und er hatte seine Krawatte verloren. Na ja, das Hemd unter dem Pulli war ganz okay. Würde eben reichen müssen, was? Vielleicht lag die Krawatte im Wagen. Er hatte sie heruntergerissen, als er das erstemal losgefahren war. Er hätte niemals, niemals zurückkommen sollen.
»Noch drei Minuten«, rief eine Stimme vor der Tür. Einer der Alten. Es würde wimmeln von ihnen.
»Weißt du«, sagte Marklin, »so was war schon unerträglich, als ich mich noch für einen treuen Novizen hielt. Jetzt finde ich es einfach unerhört. Morgens um vier geweckt zu werden… du lieber Gott, es ist ja schon fünf… für eine Trauerfeier. Das ist genauso albern wie diese Neuzeit-Druiden, die sich zur Sommersonnenwende mit Bettlaken behängt in Stonehenge herumtreiben – oder wann immer sie es da sonst treiben mögen. Vielleicht lasse ich dich die nötigen Worte für uns beide sprechen. Vielleicht warte ich im Auto.«
»Den Teufel wirst du tun«, sagte Tommy. Er fuhr sich ein paarmal mit dem Kamm durch die trockenen Haare. Sinnlos.
Sie gingen zusammen hinaus. Tommy blieb stehen und schloß die Tür ab. Im Korridor war es erwartungsgemäß kalt.
»Du kannst nicht noch mal hier herauf in dieses Stockwerk. Was in meinem Zimmer ist, können sie behalten.«
»Das wäre absolut töricht. Du wirst packen, als ob du aus ganz normalen Gründen verreisen wolltest. Warum denn nicht, zum Teufel?«
»Ich kann hier nicht bleiben, ich sag’s doch.«
»Und wenn du in deinem Zimmer etwas übersehen hast? Etwas, das die ganze Sache auffliegen lassen könnte?«
»Habe ich nicht. Das weiß ich.«
Korridore und Treppenhaus waren leer. Womöglich waren sie die letzten Novizen, die die Glocke gehört harten.
Leises Flüstern drang aus dem Erdgeschoß. Als sie am Fuße der Treppe ankamen, sah Marklin, daß es noch schlimmer war, als er vermutet hatte.
Kerzen überall! Jeder bis auf den letzten Mann in Schwarz gekleidet! Alle elektrischen Lampen ausgeschaltet. Ein ekliger Schwall warmer Luft umwogte sie. Beide Feuer brannten lodernd. Gütiger Himmel – und sie hatten jedes Fenster im Haus mit Krepp drapiert!
»Oh, das ist zuviel«, flüsterte Tommy. »Wieso hat uns keiner gesagt, wie wir uns anziehen sollen?«
»Das ist absolut ekelhaft«, sagte Marklin. »Hör zu, ich gebe dieser Sache fünf Minuten.«
»Sei kein Trottel, verdammt«, zischte Tommy. »Wo sind die anderen Novizen? Ich sehe alte Leute, überall bloß alte Leute.«
Es mußten hundert sein, die da in kleinen Gruppen oder allein an den dunklen eichenholzgetäfelten Wänden standen. Graue Haare, wohin man schaute. Na, sicher waren die jüngeren Ordensmitglieder auch irgendwo.
»Komm schon.« Tommy umklammerte Marklins Arm und zog ihn in die Halle.
Die Bankettafel bog sich unter einem gewaltigen Essen.
»Herrgott, das ist ja ein verdammtes Festmahl«, sagte Marklin. Ihm wurde schlecht, wenn er da nur hinschaute – Lamm- und Rinderbraten, Schüsseln mit dampfenden Kartoffeln, Stapel von glänzenden Tellern und silbernes Besteck. »Ja, sie
Weitere Kostenlose Bücher