Die Mayfair-Hexen
Große.
»Ash, versuche mal, keine seltsamen Reden zu führen«, grol l te der Zwerg. Auch er hatte sich zurückgelehnt und seine ku r zen, stumpfen Beinchen ganz gerade von sich gestreckt. Er hatte die Finger vor seiner Tweedweste verschränkt, und sein Hemd stand am Hals offen. Licht funkelte in seinen halb geschlossenen Augen.
»Es war nur eine Bemerkung, Samuel. Hab doch Geduld.« Der große Mann seufzte. Er sah ein bißchen verärgert aus. Dann richtete er den Blick wieder auf Yuri.
»Ich will Ihre Frage beantworten, Yuri«, sagte er. Es klang warmherzig und gelassen, wie er den Namen aussprach. »Heute wissen die Männer in der Talamasca wahrscheinlich nichts von mir. Es wäre schon ein Genie nötig, um ans Licht zu fördern, was an Geschichten über uns in den Archiven der Talamasca vergraben liegt, falls solche Dokumente tatsächlich noch existieren. Ich habe nie recht verstanden, welchen Status oder welche Bedeutung dieses Wissen hat – die Akten des Ordens, wie Sie sie jetzt nennen. Ich habe einmal, vor Jah r hunderten, ein paar Manuskripte gelesen und gelacht und g e lacht über die Worte, die darin standen. Aber damals kam mir jede geschriebene Sprache naiv und anrührend vor. Manc h mal ist es immer noch so.«
Für Yuri war das eine faszinierende Antwort.
»Welche Sprache bringt Sie denn nicht zum Lachen?« fragte er.
»Moderner Slang«, sagte der große Mann. »Realistische Pr o sa und Journalismus, der mit Umgangssprache angefüllt ist. Da fehlt die Naivität oft ganz. Alle Formalität ist dahin, und statt dessen herrscht intensive Kompression. Wenn die Me n schen heute schreiben, ist es manchmal wie das Kreischen einer Pfeife, verglichen mit den Liedern, die sie früher sa n gen.«
Yuri lachte. »Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er. »Aber für die Dokumente der Talamasca gilt das nicht.«
»Nein. Wie ich schon sagte, sie sind melodisch und unterhaltsam.«
»Aber es gibt natürlich solche und solche Dokumente. Und Sie glauben nicht, daß sie heute noch von Ihnen wissen.«
»Ich bin ziemlich sicher, daß sie nichts von mir wissen, und je weiter Sie Ihre Geschichte erzählen, desto deutlicher wird mir, daß sie unmöglich etwas von mir wissen können. Aber erzä h len Sie weiter. Was ist aus diesem Taltos geworden?«
»Sie haben versucht, ihn fortzuholen, und dabei sind sie ums Leben gekommen. Der Mann, der den Taltos tötete, hat auch diese Männer von der Talamasca umgebracht. Aber bevor sie starben, als diese Männer also versuchten, den Taltos in ihren Gewahrsam zu bringen, wie man sagen könnte, da deuteten sie an, daß sie einen weiblichen Taltos hätten und daß sie seit Jahrhunderten versuchen würden, den männlichen und den weiblichen zusammenzubringen. Sie deuteten an, dies sei das eingeschworene Ziel des Ordens. Sein verborgener, okkulter Zweck, sollte ich wohl sagen. Dies aber hat Aaron Lightner demoralisiert.
»Das kann ich verstehen.«
»Der Taltos, Lasher, schien sich über all das nicht zu wundern. Anscheinend hatte er es sich schon gedacht. Schon in seiner früheren Inkarnation hatte die Talamasca versucht, ihn aus Donnelaith fortzulocken, vielleicht um ihn mit dem weiblichen Taltos zu paaren. Aber er traute ihnen nicht und ging nicht mit ihnen. Damals war er Priester. Man hielt ihn für einen Heiligen.«
»St. Ashlar«, sagte der Zwerg, nüchterner jetzt. »St. Ashlar, der stets wiederkehrt.«
Der Große senkte leicht den Kopf; der Blick seiner dunklen, haselnußbraunen Augen wanderte langsam auf dem Teppich hin und her, fast als lese er in dem üppigen orientalischen M u ster.
»St. Ashlar«, sagte er mit trauriger Stimme.
»Sind Sie dieser Mann?«
»Ich bin kein Heiliger, Yuri. Stört es Sie, wenn ich Sie beim Namen nenne? Lassen Sie uns nicht von Heiligen sprechen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Aber die entscheidende Frage ist: Sind Sie dieses Individuum? Der, den man heilig nannte? Sie müssen es mir sagen. Ich kann mich nicht vor meinen eigenen Brüdern in der Tal a masca schützen, wenn Sie es mir nicht sagen und mir helfen zu verstehen, was hier vorgeht.«
An der Tür klopfte es, und Samuel rutschte vom Sessel und schritt zur Diele. »Gehen Sie jetzt bitte ins Schlafzimmer, Yuri. Machen Sie sich unsichtbar.« Großspurig stolzierte er an Yuri vorbei.
Yuri stand auf, und einen Moment lang schmerzte ihn seine Schulter sehr. Er ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Stilles Halbdunkel umfing ihn; durch weiche, lock e re Vorhänge sickerte
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