Die Mayfair-Hexen
sie überhaupt kein Schloß hatte, sondern nur alte, sehr rostige Angeln und einen einfachen Riegel.
Zu seinem Staunen ließ sie sich durch bloße Berührung öffnen; dabei gab sie ein gähnendes Knarren von sich, das ihn erschreckte und nervös machte. Dahinter lag ein gemauerter Gang zu einer schmalen Treppe, die nach oben führte. Frische Fußspuren auf den Stufen. Ein Schwall von warmer, leicht abgestandener Luft, winterlicher Raumluft.
Er trat ein und drückte die Tür zu. Licht sickerte von oben auf die Treppe und beschien ein mit den Worten TÜR STETS GESCHLOSSEN HALTEN sorgfältig beschriebenes Schild.
Gehorsam vergewisserte er sich, daß sie geschlossen war, dann drehte er sich um und stieg die Treppe hinauf zu einem großen, dunkel getäfelten Korridor.
Dies war der Korridor, an den er sich erinnerte. Er ging weiter, ohne zu versuchen, das Geräusch seiner Tennisschuhe zu dämpfen oder sich im Halbdunkel zu verbergen. Hier war die offizielle Bibliothek, an die er sich erinnerte – nicht das tiefe Archiv mit den unbezahlbaren, zerbröckelnden Akten, sondern der alltägliche Lesesaal mit langen Eichentischen, bequemen Stühlen und Stapeln von Zeitschriften aus der ganzen Welt.
Er hatte angenommen, der Raum sei leer, aber bei genauerem Hinsehen entdeckte er einen alten Mann, der in einem Sessel döste, ein stämmiger Mensch mit einem Kahlkopf; eine kleine Brille saß auf seiner Nasenspitze, und er trug einen hübschen Hausmantel über Hemd und Hose.
Es kam nicht in Frage, hier anzufangen. Zu leicht konnte ein Alarm ausgelöst werden. Er ging rückwärts hinaus, und jetzt achtete er darauf, kein Geräusch zu machen; er konnte von Glück sagen, daß er den Mann nicht geweckt hatte. Er ging weiter, bis er zu einer großen Treppe kam.
Früher hatten die Schlafräume im zweiten Stock begonnen. Ob es immer noch so war? Er stieg ganz hinauf. Wahrscheinlich war es immer noch so.
Als er im zweiten Stock das Ende des Korridors erreicht hatte, bog er in einen schmaleren Gang ein und sah Licht unter einer Tür schimmern. Er beschloß, dort anzufangen.
Ohne anzuklopfen drehte er den Türknopf und betrat einen kleinen, aber eleganten Schlafraum. Drinnen war nur eine grauhaarige Frau, die sichtlich erstaunt, aber ohne Angst von ihrem Schreibtisch aufblickte.
Genau darauf hatte er gehofft. Er näherte sich dem Schreibtisch.
Unter ihrer linken Hand lag ein aufgeschlagenes Buch; mit der rechten hatte sie darin etwas unterstrichen.
Es war Boethius. De topiciis differentiis. Und unterstrichen hatte sie den Satz: »Syllogismus ist ein Diskurs, in welchem, wenn bestimmte Dinge einvernehmlich festgestellt sind, kraft der einvernehmlichen fest gestellten Dinge etwas anderes als die einvernehmlich festgestellten Dinge folgt.«
Er lachte. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu der Frau.
Sie schaute zu ihm auf; seit er hereingekommen war, hatte sie sich nicht gerührt.
»Wer sind Sie?«
Der knirschende Ton ihrer Stimme – vielleicht eine Folge des Alters – verblüffte ihn. Ihr graues Haar war schwer; sie trug es in einem altmodischen Knoten am Hinterkopf, nicht im geschlechtslosen Fransenschnitt der geltenden Mode.
»Ich bin unhöflich, ich weiß«, sagte er. »Ich weiß immer, wenn ich unhöflich bin, und ich bitte Sie um Entschuldigung.«
»Wer sind Sie?« fragte sie noch einmal und in fast genau dem gleichen Ton wie beim erstenmal, nur daß sie jetzt zur Betonung auf jedes Wort eine Pause folgen ließ.
»Was bin ich«, sagte er. »Das ist die wichtigere Frage. Wissen Sie, was ich bin?«
»Nein«, sagte sie. »Sollte ich?«
»Ich weiß es nicht. Schauen Sie meine Hände an. Wie lang und schmal sie sind.«
»Zart«, sagte sie in dem gleichen knirschenden Ton, und ihr Blick richtete sich nur sehr kurz auf seine Hände, bevor er zu seinem Gesicht zurückkehrte. »Warum kommen Sie hier herein?«
»Meine Methoden sind die eines Kindes«, sagte er. »Anders kann ich nicht vorgehen.«
»Und?«
»Wußten Sie, daß Aaron Lightner tot ist?«
Sie schaute ihm in die Augen und sank dann auf ihrem Stuhl nach hinten; der grüne Marker entglitt ihrer rechten Hand. Sie schaute weg. Es war eine schreckliche Enthüllung für sie.
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte sie. »Weiß es jeder?«
»Anscheinend nicht«, sagte er.
»Ich wußte, daß er nicht zurückkommen würde.« Sie spitzte den Mund, so daß die tiefen Falten über den Lippen einen Augenblick deutlich und dunkel hervortraten. »Warum kommen Sie her, um mir das zu
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