Die Medizinfrau
ich oben ein paar Dinge für die Zwillinge habe – Bänder, ein Fernglas und ein paar andere Kleinigkeiten.«
»Sie brauchen nichts, Olivia.«
Lag in seiner Stimme etwa ein versteckter Vorwurf? Wie konnte er es wagen, ihr Schuldgefühle zu machen, seine Kinder im Stich zu lassen?
Sie machte keinen Versuch, ihre wachsende Wut zu unterdrücken. Sie wußte, daß ihr Zorn unlogisch und ungerecht war, doch er linderte ihren Verlustschmerz und die Qualen des Zweifels, die sie den ganzen Nachmittag über geplagt hatten.
Nein, sie paßten nicht zueinander. Ihr Verstand begriff das, doch ihr Herz weigerte sich. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, der nicht für sie bestimmt war. Das Herz kämpfte mit der Vernunft, und er besaß die Frechheit, ihr Vorwürfe über ihre Unzulänglichkeiten zu machen. Er glaubte, sie zu lieben, doch die Frau, die er liebte, die Frau, die ein paar Wochen mit ihm in den Bergen gelebt hatte, war nur eine Seite ihrer Persönlichkeit. Ihre andere Seite kannte er nicht. Diese Ungerechtigkeit machte sie nur noch wütender.
»Schau mich nicht so an!« blaffte sie.
»Wie denn?«
»Als würdest du … als würdest du mich verachten.«
Er hob eine Augenbraue. »Habe ich dich angesehen, als würde ich dich verachten?« Ohne Vorwarnung machte er zwei lange Schritte nach vorn, und plötzlich lag sie in seinen Armen. »Sehe ich aus, als verachte ich dich?«
Sein Mund legte sich schwer auf den ihren. Beinahe gegen ihren Willen öffneten sich ihre Lippen. Ungezähmte Leidenschaft drängte sich durch die Schranken, die sie gegen ihn zu errichten bemüht war. Sie umarmte ihn und versank wieder in ihrer gemeinsamen Welt, unfähig zu denken und Widerstand zu leisten.
Endlich gab sein Mund sie frei, Kälte kroch zwischen sie. Wie benommen befreite sie sich aus seiner Umarmung.
»Das sind meine Gefühle für dich.«
»Nein.« Sie schüttelte mechanisch den Kopf, um ihm und sich selbst zu widersprechen. »Du glaubst nur, mich zu lieben, Gabriel. Aber du kennst mich nicht wirklich.«
»Ich kenne dich gut genug. Ich weiß, daß du eine starke Frau bist, Olivia Baron. Vielleicht die stärkste Frau, die mir je begegnet ist. Du bist warmherzig, gütig und störrisch wie ein Maulesel. Dein Lachen erinnert mich an Glockenläuten. Aber du lachst zu selten, und manchmal lächelst du sogar zu selten. Du hast mehr Rückgrat als irgendeine andere Frau. Und nun muß ich einsehen, daß dir der Mut fehlt, deine Liebe einzugestehen.«
Olivia preßte die Lippen aufeinander, um die Antwort zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lag. Sie liebte ihn – so sehr, daß ihr Herz drohte zu zerspringen. Aber sie hatte nicht den Mut, bei ihm zu bleiben – aus tausenderlei Gründen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie leise. »Vielleicht habe ich den Mut, meine Liebe einzugestehen, aber nicht genügend Mut, um mit dir in deiner unzivilisierten Welt zu leben.«
Seine Augen wurden hart und kalt. Sie konnte seine Gefühle nicht lesen.
»Dann heißt es also Abschied nehmen.«
»Ja, ich denke, das heißt es.« Olivia wünschte, sie könnte den Gefühlen Ausdruck geben, die sie durchströmten, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Olivia!« Sylvesters fordernde Stimme drang in ihren Schmerz. »Olivia, schnell! Amy hat Schmerzen. Es geht ihr nicht gut!«
Kapitel 17
Olivias Hoffnung, Amys Beschwerden seien falscher Alarm, erwies sich bei der Untersuchung ihrer Patientin als vergeblich. Die Wehen hatten tatsächlich eingesetzt, und Amy geriet in Panik, nicht wegen der Schmerzen, sondern vor Angst, sie könne auch dieses Kind verlieren.
»Beruhige dich, Amy. Du hast jetzt eine schwere Aufgabe vor dir, dein Baby zur Welt zu bringen.«
»Nein, Olivia!« Amys Gesicht war aschfahl. »Mach mir nichts vor. Sag mir die Wahrheit. Ich verliere das Kind, nicht wahr? Es ist zu früh. Viel zu früh! O Gott, steh mir bei! Ich dachte, diesmal …«
»Amy, beruhige dich! Du tust weder dir noch dem Kind einen Gefallen, wenn du die Nerven verlierst. Die Wehen setzen früh ein. Aber vielleicht haben wir uns um ein paar Wochen im Datum verschätzt. Mit Sicherheit bist du über dem achten Monat. Dein Baby ist allem Anschein nach gesund. Aber um das wirklich zu wissen, müssen wir es erst zur Welt bringen.«
Sylvester war keine Hilfe. Er saß an Amys Bett, drückte ihre Hand und flüsterte jammernd ihren Namen, während Olivia Mrs. Grisolm Anweisungen gab, saubere Laken zu bringen.
»Und brühen Sie Schwarzwurzeltee auf, Mrs. Grisolm.
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