Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Carmichael
Vom Netzwerk:
gelegt hatte? Warum hatte sie nicht auf ihn gehört?
    ›Vielleicht‹, meldete sich eine kleine Koboldstimme in seinem Kopf, ›dachte sie, du gebrauchst Ausreden. Du warst nicht sonderlich begeistert von ihrem Wunsch, nach Elkhorn zurückzukehren‹.
    Noch ein paar Tage hätten ihr nicht geschadet.
    ›Wirklich nur ein paar Tage?‹
    Ich hätte sie nach Elkhorn zurückgebracht. Ich bin kein Ungeheuer, das Frauen seinen Willen aufzwingt.
    ›Ist das so?‹ spöttelte der Kobold. ›Du hast sie mit vorgehaltener Pistole gezwungen mitzukommen, du hast sie gegen ihren Willen in die Berge geschleppt.
    Nein, du bist kein Ungeheuer, das Frauen seinen Willen aufzwingt.‹
    Das war etwas anderes. Die Kinder waren krank. Sie wären gestorben, wenn ich sie nicht geholt hätte. Sie hat ihnen das Leben gerettet.
    ›Das stimmt. Olivia hat ihnen das Leben gerettet.‹
    »Verdammte Scheiße!« fluchte Gabe laut. Er stand in Olivia Barons Schuld, er konnte nicht hier herumhocken und Selbstgespräche führen, während sie in ihr Verderben ritt. Wäre nicht dieser aufkommende Sturm, würde er sie allein ins Tal reiten lassen. Es stimmte, die Kinder brauchten sie nicht mehr. Er hätte sich nicht weigern dürfen, sie gehen zu lassen.
    Das Beängstigende daran war, gestand Gabe sich schließlich ein, daß er Olivia Baron nicht gehen lassen wollte – aus Gründen, die nichts mit den Zwillingen zu tun hatten. Er mochte sie. Trotz ihrer zugeknöpften, pedantischen Art, ihrer unweiblichen Selbständigkeit und ihres Dickkopfs, wirkte sie anziehend. Sie hatte einen starken Willen, Köpfchen und ein tiefes Mitgefühl, das sie hinter ihrer spitzen Zunge versteckte. Und außerdem hatte sie eine verdammt gute Figur. Kein Drandenken, daß er hier sitzenblieb und die Frau im Schneesturm erfrieren ließ.
    Gabe ging mit der Lampe ins Freie und kletterte damit auf eine abgestorbene Fichte am Rande der Lichtung. Seit dem Ärger in Virginia City blieb Krummer Stab – dem es in der Reservation nie sonderlich behagte – stets in der Nähe der Kinder seiner Schwester. Seine Jagdgründe, ob legal oder nicht, waren immer in der Nähe von Katy und Ellen. Die brennende Lampe in der Astgabel würde ihn in wenigen Stunden zur Hütte bringen, um auf die Kinder aufzupassen. Und dann würde Gabe losreiten und diesem Fräulein Olivia Baron mal ein paar Sätze über Vernunft erzählen.
     
    Murdoch war unglücklich, Olivia nicht weniger. Doch Murdochs schlechte Laune machte die Situation schlimmer als nötig. Das Pferd wollte nach Hause in seinen Stall zu dem frischen Stroh und Hafer, er wollte neben den warmen Flanken der anderen Pferde stehen. Doch Olivia trieb ihn eisern den Berg hinunter.
    Olivia fluchte nicht – das war nicht damenhaft. Ihr Vater hatte sie einmal zur Rede gestellt: Wenn sie schon so etwas Ausgefallenes werden wollte wie Ärztin, sollte sie wenigstens auf ihre gute Erziehung achten und eine Dame bleiben. Sie hatte aber mehr als genug Schimpfworte in ihrem Leben gehört, und nie zuvor hatte sie ein größeres Bedürfnis, sie auszusprechen. Graupel und Schnee schlugen ihr wie Nadeln ins Gesicht. Ihr Haar war naß, das kalte Wasser lief ihr in den Mantelkragen, ihre Finger in den modischen Lederhandschuhen waren Eiszapfen. Ihre Füße spürte sie gar nicht mehr, und ihre Nase lief wie ein Wasserhahn. Und zu allem Überfluß verweigerte der verflohte Gaul jeden zweiten Schritt, und sie kamen nur im Schneckentempo voran. Auf diese Weise würde sie ein ganzes Jahr brauchen, um nach Elkhorn zu kommen. Ständig warf das störrische Vieh den Kopf nach hinten.
    Aber Olivia wußte, daß Schneestürme hoch oben in den Bergen am schlimmsten waren. Im Herbst und im Frühling fiel in den Bergen schon Schnee, wenn es unten im Tal regnete. Der Schnee würde sich also in Regen verwandeln, je weiter sie ins Tal ritt. Vom Regen bis auf die Haut durchnäßt zu werden, war zwar auch kein wünschenswerter Zustand, immerhin aber besser, als in der Kälte zu erfrieren. Vielleicht würde der Schneesturm sich überhaupt bald legen.
    Olivia zog den Mantel enger um sich. Ein sinnloses Unterfangen; der kalte Wind fuhr ihr bis in die Knochen. Sie dachte an Erfrierungen. Sie hatte einige böse Frostbeulen behandelt und war in manchen Fällen sogar gezwungen, Zehen und Finger von erbarmungswürdigen Obdachlosen zu amputieren, die eiskalte Winternächte im Freien verbringen mußten. Wer hätte je gedacht, daß sie selbst in der Gefahr schwebte, Frostbeulen davonzutragen?

Weitere Kostenlose Bücher