Die Medizinfrau
wurde.
Olivia mußte sich auf ihren Krankenbesuchen zu den abgelegenen Hütten außerhalb der Stadt verlaufen haben. Nicht, daß die Entfernungen im Tal so riesig gewesen wären, doch Olivia kam schließlich aus dem Osten, und die Bewohner von Montana hielten Leute aus dem Osten für ziemlich dumm.
Nur Amy glaubte nicht, daß Olivia sich verirrt hatte. Sie kannte ihre Freundin seit ihrer Schulzeit in Miß Tatterhorns Pensionat. Olivia hatte ihren eigenen Lebensweg mit unbeirrbarer Entschlossenheit eingeschlagen, die sie von den meisten jungen Mädchen unterschied, und sie verfügte über einen ausgesprochen scharfen Verstand. Sie hatte sich nicht verirrt. Wenn sie in der Dunkelheit vom Weg abgekommen war, hätte sie bei Tageslicht wieder nach Elkhorn zurückgefunden. Die Holzfäller hatten ja nur wenige Bäume stehen gelassen, und die Stadt war von jedem Blickwinkel zu sehen. Olivia hätte mit Sicherheit zurückgefunden.
Es sei denn, sie war verletzt oder tot. In den Bergen gab es Bären, Pumas und Wölfe. Vielleicht war sie im Dunkeln gestolpert, hatte sich einen Knöchel gebrochen, konnte nicht weitergehen und war an Unterkühlung, Hunger und Durst gestorben.
Amy kniff die Augen zu. Daran wollte sie nicht denken. Aber sie mußte daran denken. Schließlich war Olivia auf ihren Wunsch nach Elkhorn gekommen. Ohne sie wäre die Freundin gesund und munter in New York. Sie hatte den Antritt eines gut bezahlten Postens an der New England Frauen- und Kinderklinik verschoben, um nach Elkhorn zu reisen, und Amy während ihrer Schwangerschaft beizustehen.
Sie erhob sich mühsam und trat ans Fenster. Schneefall setzte ein, den die grauen Wolkenfetzen seit Tagen androhten. Nun waren die Berge nebelverhangen. An den bewaldeten oberen Hängen schneite es schon seit Tagesanbruch. Amy hatte das Schneegestöber den ganzen Morgen beobachtet und fragte sich bang, ob Olivia irgendwo dort draußen im Schneesturm ums Überleben kämpfte. Vermutlich war es zu spät. Sylvester hatte meist recht. Nach einer Woche vergeblicher Suche, ohne eine Spur von ihr, hatte er die Hoffnung aufgegeben. Nur Amys unablässiges Drängen veranlaßte ihn, weitere Nachforschungen anzustellen. Möglicherweise aber war Olivia längst tot, und sie würden nie erfahren, was mit ihr geschehen war.
Tränen brannten in Amys Augen. Ihr Arm ruhte auf ihrem Kugelbauch, als wolle sie ihr ungeborenes Kind umarmen. Ihr ganzes Leben hatte sie sich danach gesehnt, Mutter zu werden. Schon als kleines Mädchen hatte sie alles in ihrer Umgebung bemuttert, junge Hunde und Katzen, Puppen und andere Kinder. Bei Miß Tatterhorn hatte sie Olivia bemuttert und sie vor den Sticheleien ihrer Mitschülerinnen beschützt, die sie für kauzig hielten und grausame Scherze mit ihr trieben. Olivia hatte sich nie etwas daraus gemacht. Sie war zu sehr von ihrer Berufung überzeugt, um sich darum zu kümmern, was andere dachten. Doch Amys Mutterinstinkt war entflammt.
Nach einer Fehlgeburt und einem zweiten totgeborenen Kind erwartete sie nun ihr drittes Baby. Olivia hatte ihr versichert, daß diese Schwangerschaft einen normalen Verlauf nahm. Olivia – würde Amy sich je verzeihen können, sie nach Elkhorn geholt zu haben, um hier ein grausames Schicksal zu erleiden? Jedesmal wenn sie ihr heiß ersehntes Kind in den Armen wiegte, ihm in die Augen schaute, würde sie an Olivia denken und sich nagende Fragen über ihren Tod stellen.
Ein leises Klopfen an der Tür holte sie aus ihren traurigen Gedanken. »Amy, Liebling. Schläfst du?«
»Komm nur herein, Sylvester.«
Er lächelte, sein Gesicht war von der Kälte gerötet, in seinem Backenbart hingen noch einige Schneeflocken. »Ich habe Neuigkeiten, die uns Aufschluß über Olivia geben könnten. Aber du mußt mir versprechen, deine Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben. Ich möchte nicht, daß du hinterher enttäuscht bist.«
Ein Hoffnungsschimmer flammte in Amys Herz auf. »Erzähl mir, Sylvester. Was hast du erfahren?«
»Ich habe mit Gregg Smoot, dem Schmied, gesprochen. Du weißt, daß er nebenbei den Mietstall betreibt.«
»Ja?«
»Er erinnert sich an etwas Seltsames am letzten Tag, an dem Olivia gesehen wurde. An diesem Abend kam Gabriel Danaher in die Stadt und stellte sein Pferd in Smoots Stall ein. Am nächsten Morgen war Danahers Pferd verschwunden und auch eines von Smoots Pferden, ein großer Wallach, der in der Box neben Danahers Stute stand. Pferdediebstahl ist ja nichts Ungewöhnliches, unverständlich ist
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