Die Medizinfrau
streckte die Beine, um die verspannten Muskeln zu lockern. Ein schwacher Schimmer im Osten kündigte die Morgendämmerung an. Das von hohen Felsgipfeln umgebene Gebirgstal des Thunder Greek mußte noch ein paar Stunden warten, bevor die Sonne es erwärmte. Der dunkle Wald wirkte weniger bedrohlich, der unheimliche Bann der Nacht wurde durch den ersten Lichtschein über den Gipfeln gebrochen. Sie würde sich kurz ausruhen und dann weiterreiten. Noch bevor die Sonne hinter den Bergen im Westen sank, würde sie wieder bei Amy in Elkhorn sein.
Gabriel Danaher. Der Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Kein Wunder, er bereitete ihr ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Doch hinter all den Widersprüchen seines Wesens spürte sie Festigkeit, Vertrauen, Verläßlichkeit.
Und dann waren da noch seine klaren smaragdgrünen Augen, mahnte ihr Gewissen mit leiser Ironie. Und die kühn geschwungenen Augenbrauen, die dünne Narbe, die seinen kantigen Gesichtszügen etwas Verwegenes gab, das spöttische Lächeln und der kaum wahrnehmbare irische Akzent. Sie war eine alberne Gans, nicht anders als die Backfische in Miß Tatterhorns vornehmem Mädchenpensionat. Über pubertäre Schwärmereien dürfte sie längst hinaus sein. Zudem war ein Kerl mit einer dunklen Vergangenheit, der betrunken aus Nachtbars geworfen wurde, sie mit einer Pistole bedrohte, entführte und beinahe auf dem Höllenritt in die Berge umgebracht hätte, kein Mann, für den eine vernünftige, gebildete Frau ins Schwärmen geriet. Dazu kam, daß seine Töchter sich so wild und ungezogen aufführten wie ein Wurf junger Wölfe.
Der Wind zerrte kräftiger an ihrem Haar. Die Morgendämmerung, stellte sie besorgt fest, ließ lange auf sich warten. Graue Wolkenfetzen jagten über den Himmel, hüllten die Berggipfel ein und senkten sich in die Paßhöhen. Olivia hievte sich wieder in den Sattel und zwang den Gaul, sich talwärts in Bewegung zu setzen, als die ersten Schneeflocken auf ihren Wangen schmolzen.
Gabriel erwachte in stockfinsterer Nacht und überlegte, was ihn geweckt haben mochte. Er nahm nur vertraute Geräusche wahr. Die leisen Schnarchtöne der Zwillinge in ihren Betten, das Knistern des heruntergebrannten Feuers, das Seufzen des Windes in den Fichten. Irgendwo weit weg schrie ein Berglöwe. Vielleicht war er davon aufgewacht. Doch der unheimliche Katzenschrei war in den nächtlichen Bergen von Montana nichts Ungewöhnliches.
Irgend etwas war nicht, wie es sein sollte, und das hatte ihn geweckt. Er stand auf, zog dicke Wollsocken an und tappte zu den Betten der Kinder vor dem Feuer; die beiden schliefen tief. Er schaute die Leiter hinauf in den dunklen Speicher, wo Olivia schlief. Er konnte nur das Fußende der Pritsche sehen. Seine Augen verengten sich mißtrauisch. Dann kletterte er die Leiter hinauf, stählte sich innerlich für den Ausbruch der Entrüstung, der ihn erwartete, wenn er Olivia in ihrem sittsamen Schlaf störte. Doch als er sich über das Bett beugte, empfing ihn keine Explosion jungfräulicher Entrüstung. Das Bett war leer.
Er fluchte.
Gabe wußte sofort, was die kleine Närrin getan hatte. Dennoch nahm er eine Öllampe und verschaffte sich Gewißheit. Mantel und Arzttasche waren verschwunden; Minnies zwei Kleider, die Olivia erstaunlich gut paßten, lagen ordentlich gefaltet am Fußende des Feldbetts. Murdoch stand nicht im Stall, es fehlten ein Sattel, eine Decke und ein Zaumzeug. Von den Satteltaschen fehlte keine. Das dumme Ding hatte nicht daran gedacht, sich etwas zu essen und eine zusätzliche Decke mitzunehmen. Glaubte sie, der Ritt nach Elkhorn sei wie ein Ausritt im Central Park?
Er verfluchte Olivia für ihren Starrsinn und sich selbst, sie fortzulassen, ohne aufgewacht zu sein. In der Stalltür stehend schaute er in den Himmel. Der helle Wintermond zeigte sich gelegentlich hinter jagenden Wolkenfetzen. Die Luft roch nach Schnee; bald würden sich die Wolken zum ersten Schneesturm in diesem Winter zusammenbrauen. Selbst erfahrene Holzfäller hielten sich im Schneesturm im Montana lieber im Schutz einer Blockhütte auf.
Die dumme Gans hatte sich die Suppe eingebrockt, redete er sich auf dem Weg ins Haus ein, und sollte sie auch selbst auslöffeln. Er würde seine Kinder nicht allein lassen, um der einfältigen Person nachzurennen.
Leise, um die Zwillinge nicht zu wecken, hängte er die Kaffeekanne über das Feuer und zog sich den Hocker heran. Warum konnte sie nicht noch ein paar Tage warten, bis der Sturm sich
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