Die Medizinfrau
mein Schatz?«
»Nichts!« Katy schrie ihren Vater an, Wut und Enttäuschung brodelten in ihr auf. »Was ist in dich gefahren?«
»Ich finde, du solltest jetzt ins Bett gehen und über dein Benehmen nachdenken.«
»Gern! Es sind sowieso zu viele Leute an diesem Tisch!«
Die Flucht in den Speicher war eine Erleichterung; andererseits schmerzte sie der Gesichtsausdruck ihres Vaters. Sie hörte leise Stimmen von unten und vermutete, daß man über sie redete. Sollten sie ruhig! Ihr war es gleichgültig. Sie zog ihr Flannellnachthemd an, kroch unter die Decke und wünschte sehnlichst, daß alles wieder so wäre wie früher, bevor sie und Ellen krank wurden – nein, bevor ihre Mutter gestorben war. Katy erinnerte sich, wie ihre Mutter ihnen jedes Jahr zu Weihnachten die Weihnachtsgeschichte erzählt hatte. Sie hatte die Legende von Missionaren in der Reservation gehört, in die Berge von Montana verlegt und die Figuren zu Schwarzfußindianern gemacht.
Danach erzählte ihre Mutter eine Geschichte der Schwarzfuß, wie der alte Mann Napi die Erde aus einer Lehmkugel geformt hatte, und dann auf der Erde herumstreifte und Felsen zu Gebirgen auftürmte, Flußbetten grub, Tiere, Vögel und Fische machte, die Menschen formte und sie zu leben lehrte.
Schritte auf der Leiter rissen Katy aus ihren Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeste. Jemand setzte sich auf ihr Bett.
Eine Hand legte sich leicht auf ihre Schulter – Olivia.
»Katy?«
»Gehen Sie weg.«
»Wir wollten dich heute nachmittag nicht ausschließen. Wir dachten, du willst das Dach des Stalls reparieren.«
»Lassen Sie mich allein. Es ist mir egal, was ihr heute nachmittag gemacht habt.«
»Du hättest nicht auf Krummer Stab hören sollen, als er deinen Vater meinetwegen gehänselt hat, Katy. Und selbst wenn dein Vater eines Tages wieder heiratet, bedeutet das nicht, daß er dich weniger lieb hat.«
»Gehen Sie! Ich will nicht mit Ihnen reden.«
Sie hörte einen Seufzer. Das Gewicht hob sich von der Liege, Schritte tappten die Leiter hinunter.
Der nächste Morgen dämmerte grau und kalt, passend zu Katys Stimmung. Ihr Vater ging früh in die Mine mit dem Versprechen, früher nach Hause zu kommen, zum Weihnachtsessen und den Geschenken. Olivia und Ellen kümmerten sich um das Wolfsjunge, das sich in der Nacht den Verband weggebissen hatte. Sie überlegten, wie man den Welpen von Ellens verletztem Streifenhörnchen fernhalten konnte, das in einer Kiste in der entfernten Ecke des Raumes untergebracht war. Katy stapfte allein durch den Wald und stellte Hasenfallen auf. Sie wollte sich eine Mütze aus Hasenfell machen, um die Ohren im Winter warm zu halten. Auf keinen Fall hatte sie Lust, in der Hütte mit Ellen und dieser Frau zu sein.
Zwei Stunden später kam sie zur Hütte zurück und traf Ellen, die mit hochrotem Gesicht und völlig außer Atem von der Mine angelaufen kam.
»Katy! Die Mine!«
»Was?«
Sie keuchte. »Die Mine! Eingestürzt. Pa …« Sie wimmerte. »Pa ist verschüttet.«
Kapitel 13
Der Staub hing vor dem Stolleneingang und hüllte die Zwillinge ein, die auf Olivia zustürmten. Katys Hand umklammerte drei Hasen, in der anderen baumelten die Fallen. Das Mädchen warf alles von sich und wollte zum Schachteingang.
»Nein! Kommt nicht infrage!« Olivia versperrte ihr den Weg. Katy stieß sie zur Seite. Olivia stürmte hinter ihr her und zerrte sie zurück. »Du gehst dort nicht hinein! Es stürzen immer noch Felsbrocken herunter. Ich kann es hören.«
»Mein Pa ist da drin!«
»Wenn du hineinrennst und dich umbringst, hilfst du ihm nicht!«
Ellen kam mit tränenverschmiertem Gesicht angelaufen und nahm Katys Hand. »Er lebt vielleicht noch. Es ist gerade passiert.«
»Habt ihr es gesehen?« fragte Katy grimmig.
»Wir wollten ihm grade das Mittagessen bringen, als es passierte. Die Erde zitterte, und eine Staubwolke quoll aus dem Schacht, fast wie bei einer Sprengung, Katy! Was sollen wir denn tun?«
»Ihr beide beruhigt euch erst mal!« Olivias Gedanken überstürzten sich und suchten nach einem Plan. Wie immer in Notsituationen arbeitete ihr Verstand glasklar ohne Angst oder Hysterie. An der Universität und als Assistenzärztin in Paris hatte sie sich einen Ruf als kühle Pragmatikerin in Notfällen erworben. Diese Krise war nichts anderes; es galt ein Leben zu retten. Klares, schnelles Denken war nötig. Später konnte sie zusammenbrechen und ihren Tränen freien Lauf lassen.
Die Erde erbebte erneut, und wieder quoll eine
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