Die Medizinfrau
wiegte sich verzweifelt hin und her, das Gesicht in den Händen vergraben.
Olivia arbeitete verbissen weiter. Endlich konnte sie einen besonders großen Felsbrocken lösen. Als er nach unten polterte, rieselte ein Schauer Kies und Steine hinterher. Nachdem der Staub sich soweit verzogen hatte, daß man etwas sehen konnte, hielt sie die Lampe empor und entdeckte eine Öffnung zur anderen Seite.
»Gabriel! Können Sie mich hören?«
Während der letzten Stunden hatte sie diese Worte immer wieder gerufen. Diesmal übertönte eine Antwort das Echo ihrer Worte.
»Olivia?«
»Gabriel!«
»Pa!« schrie Katy.
»Gabriel, wo sind Sie?«
»Ich stecke in einem verfluchten Erdrutsch!«
Die Erleichterung schwächte Olivia so sehr, daß sie die Schaufel nicht mehr heben konnte. Heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht. Das Wunder war geschehen. Wenn Danaher seine Lage in diesem Tonfall beklagte, konnte er nicht allzu schwer verletzt sein.
Katy nahm Olivia die Schaufel aus der Hand und attackierte wie eine kleine Furie den Geröllhaufen. Schnell vergrößerte sie das Loch und schlüpfte durch. Olivia nahm die Lampe und folgte ihr. Danaher lag an eine Schachtwand gelehnt. Staub und Geröll bedeckten ein Bein.
»Pa! Bist du in Ordnung?«
Danaher schnitt eine Grimasse. Im Lampenschein schimmerte ein dunkles, nasses Rinnsal, das ihm vom Haaransatz seitlich übers Gesicht lief und im Kragen versickerte.
»Ich denke schon. Bis hierher habe ich es nach dem ersten Einsturz geschafft. Fing an zu buddeln, dann prasselten wieder Felsbrocken auf mich runter. Bin eben zu mir gekommen.«
»Lassen Sie mal sehen!« Olivia war wieder ganz die kühle Ärztin. »Katy halte die Lampe hoch.«
Eine Platzwunde über der rechten Schläfe blutete stark, schien aber nicht tief zu sein. »Können Sie sich bewegen? Haben Sie etwas gebrochen?«
»Ich kann mein Bein nicht bewegen.«
»Welches?«
»Das, auf dem Sie sitzen.«
»Was? Ich sitze doch nicht … ach ja, ich sitze.« Hastig gab sie sein Bein frei. »Tut mir leid, ich dachte, das ist ein Geröllhaufen.«
»Jetzt kann ich es wieder bewegen.« Er grinste, und die Staubschicht in seinem Gesicht bröckelte wie ein Spinnwebengeflecht.
Sie weinte beinahe über seinen Versuch, witzig zu sein.
»Seien Sie ernst! Ist sonst alles heil? Rippen? Finger?«
»Ich kann meine Rippen nicht bewegen.«
»Sie sind ein Dummkopf, Danaher!«
Sie fuhr fort, ihn zu untersuchen, um sicherzustellen, daß sein Hals, seine Wirbelsäule und Rippen nicht verletzt waren.
»Pa, wir dachten, du bist tot!«
»Du weißt doch, daß ein lächerlicher Einsturz einen Iren nicht umbringen kann, Katy. Aber ich bin froh, daß ihr zwei mich hier rausholt.« Er schaute zu Olivia hoch. »Daß Sie sich noch einmal in diesen Schacht wagen. Hätte nicht gedacht, daß Ihnen meine Haut so viel bedeutet.«
Ihre Finger hielten inne, seinen Brustkorb abzutasten. Er hatte recht. Sie hatte nicht ein einziges Mal an ihre Angst vor dem engen Schacht gedacht. Bis jetzt. »Ich wünschte, Sie hätten das nicht gesagt, Mr. Danaher.«
Zu ihrem Erstaunen legte sich seine Hand über ihre Finger. »Wer braucht mehr Hilfe, aus diesem Schacht rauszukommen? Sie oder ich?«
»Mach dich nicht über sie lustig, Pa! Wenn Doc nicht gewesen wäre, hätte mich der zweite Einsturz erwischt, und Ellen würde immer noch heulen wie ein Schloßhund.«
Danaher lächelte. »Was du nicht sagst.«
Katy warf Olivia einen scheuen Blick zu. »Und sie hat wie eine Verrückte weitergeschaufelt, als ich aufgegeben habe und zu heulen anfing.«
»Interessant. Ich glaube, wir beide verdanken Doc unser Leben, stimmt’s?«
»Ja. Das glaube ich auch.«
»Und denkt bloß nicht, daß ihr zwei mir dafür nicht bezahlen werdet. Aber jetzt wollen wir erstmal hier raus. Können Sie gehen, Mr. Danaher?« Olivia bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, obwohl die Felswände immer bedrohlicher auf sie zurückten, und das Atmen ihr unendlich schwerfiel.
»Ich kann gehen.« Etwas mühsam kam Danaher auf die Füße. Er legte einen Arm um sie, um sich zu stützen, doch Olivia spürte, wie seine Kraft auf sie überging. Ironischerweise war sie seine Retterin, aber er bot ihr seine Hilfe an.
»Denken Sie an die Bergwiese«, raunte er ihr zu, als Katy durch das Loch im Geröll kroch. »An die Blumen und den Bach.«
Olivia holte tief Luft und dachte an die Wiesen, durch die sie auf dem Rückweg geritten waren; den Bach, der über die Biberdämme plätscherte; den Adler,
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