Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
Vom Netzwerk:
erschreckende Weise?
    War es das, was den Fremden aus der Fassung brachte?
    Henrika schätzte den Festungsbaumeister auf etwa fünfzig Jahre. Wie alt wäre ihre Mutter? Vierzig? War es möglich, dass nach so langer Zeit jemand hier auftauchte, der Licht in das Dunkel ihrer Herkunft bringen konnte?
    Noch bevor Henrika den Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, hob Barthel Janson abwehrend die Hand. Sein Gesicht hatte einen verschlossenen Ausdruck angenommen.
    «Hat deine Mutter dir etwas anvertraut, bevor sie starb?»
    «Etwas anvertraut?», fragte sie verwirrt. «Was sollte sie mir denn anvertraut haben?»
    «Keine Ahnung.» Barthel packte Henrika bei den Schultern und schüttelte sie. Nicht grob, aber drängend, als brenne ihm plötzlich der Boden unter den Füßen. «Hat sie dir vielleicht ein paar Zeilen hinterlassen? Eine Botschaft oder ein paar Verse? Ein Lied vielleicht?»
    Henrika schluckte. Hinterlassen hatte sie ihr nichts. Zumindest nichts Schriftliches. Aber es gab da tatsächlich etwas, das sie mit ihrer Mutter verband. Ein Lied. Als Kind hatte sie es manchmal gesungen, wenn Agatha Hahn sie ausgeschimpft hatte. Sie erinnerte sich dunkel, dass es eine hübsche, wenngleich traurige Melodie hatte, doch die Verse waren ihr längst entfallen. Ihre Pflegeeltern hatten das Lied nicht gemocht, so wie sie alles ablehnten, was sie an Henrikas früheres Leben erinnerte. Sie hatten ihr aufgetragen, Psalmen aus der Bibel zu lernen. Jeden Abend einen neuen Psalm, und Agatha hatte sie auf dem kalten Lehmboden niederknien lassen, bis sie die Verse ohne Fehler aufsagen konnte.
    Mit der Erinnerung an ihre Mutter war auch das Lied allmählich verblasst, bis es allmählich ganz aus ihrem Gedächtnis verschwunden war.
    «Ich war noch klein, als meine Mutter am Wundfieber starb», sagte Henrika schließlich. «Ich durfte nicht einmal bei ihr sein, als es zu Ende ging. Aber warum sagt Ihr mir nicht endlich, was Ihr mit dieser ganzen Fragerei bezweckt. Wer seid Ihr wirklich, und warum wollt Ihr …»
    «Geh nach Haus, Mädchen», erwiderte er schroff. «Ich will nichts mehr hören.»
    «Aber …»
    «Hast du nicht gehört? Du sollst verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich habe alle Hände voll zu tun, um den Auftrag des Kurfürsten zu erfüllen, und keine Zeit, sie mit rachsüchtigen Flickschustern und … Dorfhuren zu vergeuden.»
    Dorfhuren? Henrika zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Wie betäubt lief sie davon, vorbei an den winterlich kahlen Kirschbäumen, die den Eingang zum Fischergässchen markierten. Von fern hörte sie, wie sich seine Schritte knirschend entfernten, drehte sich aber nicht mehr nach ihm um. Sie stürzte in so großer Eile den Weg entlang, dass der Morast in alle Richtungen spritzte, und erst als sie den Zaun erreichte, der das kleine Gemüsegärtchen vor der Hutmacherei umgab, gönnte sie sich einen Moment zum Verschnaufen. Ihre Hand bebte, als sie sich die Tränen von den Wangen wischte. Wie dumm zu heulen, schalt sie sich, brachte es aber nicht fertig, ihr wild hämmerndes Herz zu beruhigen.
    Barthel Janson hatte ihre Mutter gekannt, so viel stand für sie fest. Er hatte sich an sie erinnert, und die Erinnerung hatte ihm nicht gefallen. Im Gegenteil, sie hatte ihm Angst eingeflößt. Oder ein schlechtes Gewissen. Hatte er womöglich etwas mit ihrem tragischen Schicksal zu tun?
    Henrika versuchte sich an die Männer zu erinnern, die sie und ihre Mutter damals aus der Stadt gebracht hatten, aber ihr Gedächtnis gab nicht mehr preis als undeutliche Schemen, die Geräusche von Pferdehufen auf hartem Grund und ein paar heisere Männerstimmen, die inmitten dichten Nebels miteinander zu streiten schienen.
    War Barthel Janson einer dieser Männer gewesen? Möglich war es, aber sie würde es nie erfahren, wenn sie den Fremden nicht irgendwie zum Reden brachte.

    Barthel hatte nie an die Vorsehung geglaubt, denn er sah sich als einen Mann der Wissenschaft. Mit einigen der gelehrtesten Männer Europas hatte er sich unterhalten, Hunderte von Briefen geschrieben und ganz Europa bereist. Doch die Begegnung mit dem Mädchen fernab des glanzvollen Hofes von Heidelberg, an dem er ein und aus ging, erschien selbst dem Zweifler in ihm wie ein Fingerzeig Gottes.
    Allerdings hatte er die Sache gründlich verpatzt. Er hatte sie zuerst erschreckt und dann beleidigt. Wütend trieb er sein Pferd an, obwohl es viel zu dunkel war, um schnell zu reiten. Er würde sich noch den Hals brechen, wenn er weiter so

Weitere Kostenlose Bücher