Die Melodie des Todes (German Edition)
Bücher aus ganz Europa. Hier wurde Wissenschaft betrieben. Hier dachte man in den neuen Bahnen. In Norwegen war eine neue Zeit angebrochen.
Nils Bayer erinnerte sich, dass Bischof Gunnerus, vielleicht der Klügste aller Norweger, denen er bisher begegnet war, sich ihm eines Abends nach ein paar Gläsern bei Søren Engel anvertraut hatte.
»Norwegen wird schon bald neu geboren werden«, hatte der Bischof gesagt. »Deshalb blicken die Menschen hier so voller Erwartung auf die neue Zeit.«
Gedanken wie dieser hätten Nils Bayers Sinn erhellen sollen, sie taten es aber nicht. Sie schafften es nicht einmal, die Bilder seines nächtlichen Albtraums zu verdrängen, die er wieder und wieder vor sich sah. Das Aufblitzen der Pistolenmündung. Der tödlich getroffene Schwede. Das Blut auf seiner weißen Hemdbrust. Die aus dem Grab ragenden Beine. Der Fluss, der ruhig, ewiges Vergessen gelobend, vorbeiströmte. Nils Bayer war zum Mörder geworden, seit er Trondheim zum letzten Mal gesehen hatte. Und als Mörder musste er nun den Rest seiner Tage hier verbringen.
Er trieb das Pferd mit einem Schnalzen weiter zum Fähranleger Bakklandet. Wohlbehalten auf der anderen Seite angekommen, ritt er nach Hause und verschlief den Rest des Tags.
Mitten in der nächsten Nacht schrak er aus dem Schlaf auf. Er hatte geträumt, wieder an den Ufern des Flusses zu stehen. Die beiden Schweden hatten sich aus dem Grab erhoben und starrten ihn mit mitleidigem Blick an. Dann waren die Fliegen gekommen und hatten sich auf sie gesetzt. Aus allen Winkeln waren sie herbeigeschwirrt, bis die beiden Toten über und über von ihnen bedeckt und nur noch zwei schwarze vibrierende Schatten in der Nacht waren. Er hatte die Pistole gehoben und einen Schuss in die Dunkelheit abgefeuert. Die Fliegen waren aufgeflogen und verschwunden, und mit ihnen waren auch die beiden Toten fort.
Er warf sich auf dem Bett hin und her und tastete nach dem Flachmann, den er auf das Nachtschränkchen gelegt hatte, aber er war leer. Er hatte nichts anderes zu trinken, als das Bach wasser in dem Krug, der nun schon einige Tage dort stand. Trotz dem kippte er es gierig herunter. Er zitterte am ganzen Körper. Der Schweiß hatte sein Nachthemd durchnässt. Er riss es sich vom Leib und zog sich an. Dann holte er sein Pferd und ritt in die Nacht hinaus.
In Brattøra weckte er den Fährmann und bezahlte ihm das Dreifache, um über den Fluss gesetzt zu werden. Er ritt zum Gut Ringve und kam dort wenige Stunden nach Mitternacht an, während alle schliefen. Das war gut so, denn er war nicht gekommen, um unterhalten zu werden. Er stellte Bukkefallos im Wald außer Sichtweite des Hofs ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Statt dem Weg auf den Hofplatz zu folgen, watete er durch das hohe Gras zum Hinterhof. Dort fand er die Beete der Gutsherrin und begann zu graben.
Er grub mit den bloßen Händen. Es war harte Arbeit, aber eine fast traumwandlerische Besessenheit trieb ihn an. Die Erinnerungen der letzten Stunde, der Alkoholentzug, die helle Nacht ohne Sterne – all das erfüllte ihn mit einer wahnhaften Energie, die ihn seinen schweren Körper vergessen ließ. Nach einer Weile fand er, wonach er suchte. Er zog es aus der feuch ten Erde und wischte es mit den Handflächen ab. Dann lächelte er zum ersten Mal seit Langem. Er nahm seinen Fund mit und verstaute ihn in den Satteltaschen, ehe er zurück in die Stadt ritt. Dort angekommen gönnte er sich noch ein paar Stunden Schlaf. Und dieses Mal schlief er tief und fest und fühlte sich beim Aufwachen sogar richtig ausgeruht.
Er ging nach unten in sein Amtszimmer. Torp war bereits dort und sprang auf, als er den Raum betrat.
»Man hat sich schon Sorgen um Euch gemacht!«, sagte er und legte den Kopf schräg. »Wo wart Ihr?«
»Ich habe Gespenster gejagt«, sagte Bayer und erzählte ihm von der Jagd nach dem Schweden. Aber in seiner Erzählung war dem Schweden mitsamt der Leiche irgendwo hinter Meråker die Flucht ins Feindesland gelungen.
»Wir sollten diesen Fall vergessen«, schloss er.
»In vielerlei Hinsicht eine gute Entscheidung«, sagte Torp. »Wir haben in den letzten Tagen viel versäumt. Es sind unzählige Klagen vorgebracht worden: verdünntes Bier, Bäcker Eriksen soll verschimmeltes Brot verkauft haben, auf dem Markt ist ohne Genehmigung gehandelt worden, und, und, und. Es gibt genug zu tun.«
»Ja, wir haben genug zu tun«, wiederholte Bayer abwesend.
Er blätterte durch das Notizbuch, das vor ihm auf dem Tisch
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