Die Melodie des Todes (German Edition)
seien aber gut, und vor zwei Tagen hatte sie die Überweisung ins Zen trum für Reproduktionsmedizin im St.-Olavs-Hospital erhalten.
Mona Gran lächelte, nahm den Kopfhörer ab und begann zu telefonieren.
*
»Professor Høybråten?«
Singsaker räusperte sich. Er hatte an die Bürotür geklopft und deutlich gehört, dass ihn jemand hereingebeten hatte. Trotzdem sah der ältere Herr nicht auf, als Singsaker die Tür öffnete und sich neben seinen Schreibtisch stellte. Er saß auf seinem Stuhl und beugte sich gefährlich weit nach vorn. Es sah beinahe so aus, als schliefe er.
»Professor Høybråten?«, wiederholte Singsaker.
Erst jetzt reagierte er, richtete sich auf und sah Singsaker mit einem Blick an, der gleichermaßen abwesend und klar war. Allem Anschein nach war er tief in Gedanken versunken gewesen und nicht sonderlich begeistert über die Störung.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Jan Høybråten war älter als Singsaker und wahrscheinlich längst in Rente, wenn er nicht Professor gewesen wäre. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen ab.
»Mein Name ist Odd Singsaker. Ich komme von der Polizei. Wir ermitteln in einem Mordfall, der heute Nacht in Rosenborg geschehen ist.«
Er rechnete damit, dass Høybråten noch nichts von dem Mord gehört hatte, da die Neuigkeit so spät an die Presse gegeben worden war, dass sie in der Morgenausgabe der Zeitung noch nicht erwähnt wurde. Und der Professor sah nicht aus wie einer, der Online-Zeitungen las oder bei der Arbeit Radio hörte.
»Ja, ich habe von einem Kollegen davon gehört«, sagte er, als hätte er die Gedanken des Polizisten gelesen. »Warum kommen Sie deshalb zu mir?«
Singsaker versuchte, den Tonfall des Mannes zu deuten. War das Überraschung oder noch etwas anderes? Irritation? Nervosität? Er wusste es nicht. Die Stimmen alter Männer waren launisch.
»Ich bin hier, weil ich hoffe, dass Sie mir in einem kleinen Detail weiterhelfen können«, sagte er. »Ich brauche Ihren Rat als Experte.«
Er nahm die Spieldose heraus und zog sie auf.
»Diese Spieldose wurde bei der Leiche gefunden, und wir haben keine Ahnung, was für eine Melodie sie spielt.«
Er ließ den Schlüssel los und stellte das kleine Instrument auf den Schreibtisch.
Der Professor blieb sitzen und hörte aufmerksam zu. Etwa in der Mitte der Melodie schloss er die Augen und schien sich mit aller Kraft zu konzentrieren. Als die Töne schließlich verklangen, schüttelte er den Kopf.
»Das ist merkwürdig, ich habe die Melodie noch nie zuvor gehört«, sagte er.
»Und das überrascht Sie?«
»Ja, das überrascht mich. Die Melodie klingt in manchen Passagen seltsam vertraut. Aber ich bin mir vollkommen sicher, dass ich sie nie zuvor gehört habe. Moll, 6 / 8-Takt, langsames Tempo. Vermutlich ein Wiegenlied. Es könnte ein Lied von Bellman sein, ist es aber nicht.«
»Bellman?«
»Ja, Carl Michael Bellman. Sie kennen ihn nicht?«
»Doch, den Namen habe ich schon einmal gehört. Ein schwedischer Sänger, nicht wahr?«
»Der größte Liederdichter von allen. Er hat im 18. Jahrhundert in Stockholm gelebt.«
Høybråten musterte Singsaker mit jetzt gar nicht mehr abwesendem Blick. Er schien zu überlegen, ob er einen längeren Vortrag über den schwedischen Musiker beginnen sollte, kam dann aber wohl zu dem Schluss, dass er damit nur Perlen vor die Säue werfen würde.
»Ich habe in einer Woche in Ringve ein Konzert mit Bellman-Liedern«, sagte er nur.
»Aha, singen Sie selber?«
Er blieb eine Weile sitzen, als dächte er über die Frage nach. »Nein, ich singe leider nicht mehr. Meine Stimmbänder sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Überall Knötchen. Ich bin ein alter Mann geworden.«
»Ein paar ausgewählte Sängerinnen des Mädchenchors aus dem Nidarosdom werden singen«, fuhr der Professor fort. »Ich werde dirigieren. Als Sie hereinkamen, bin ich in Gedanken gerade das Repertoire durchgegangen. Aber um auf die Sache zurückzukommen: Das ist kein Bellman-Lied. Ich habe keine Ahnung, wer das komponiert hat.«
»Glauben Sie, dass es sich um ein nordisches Lied handelt?«, fragte Singsaker.
»Ich will nicht behaupten, den kompletten Überblick über alle Wiegenlieder zu haben, die im Laufe der Zeit geschrieben worden sind. Außerdem ist viel von dem Liedgut, das im 19. Jahr hundert hier im Norden komponiert wurde, verloren gegangen, weil es nie niedergeschrieben und gedruckt worden ist. Es ist also gut möglich.
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