Die Melodie des Todes (German Edition)
Tonzungen liegen, egal ob Moll oder Dur. Um diese Zungen anzuschlagen, gibt es in der Regel eine Trommel, auf der eine Melodieplatte mit Stahlstiften befestigt ist, die man in manchen Fällen austauschen kann. Die Stifte bewegen sich gegen die Zungen und erzeugen so die Musik. Und zu guter Letzt muss es dann noch etwas geben, das die Trommel mit den Stahlstiften antreibt. In vielen Spieldosen geschieht dies ma nuell über eine Kurbel. In anderen, wie in dieser hier, zieht man dafür eine Feder auf. Die Melodie, die gespielt wird, ist auf der Platte oder Trommel programmiert, während die Tonzungen den Tonbereich festlegen. Meiner Einschätzung nach sind die Spieldose und die Tonzungen original und alt, während die Platte auf der Trommel erst kürzlich durch eine selbst gemachte Melodieplatte ersetzt worden ist. Ziemlich amateurhaft, wie es aussieht, aber trotzdem präzise. Wer immer das gemacht hat, wusste ganz genau, was er tat.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er sich mit Musik auskennt?«
»Zweifellos«, antwortete Røed.
»Ein Musiker?«
»Oh, es gibt viele Arten, sich mit Musik auszukennen. Man kann Musik auch als rein theoretische Größe verstehen. Manche Leute vergleichen die Musik mit der Mathematik. Eine Spieldose mit einer neuen Melodieplatte zu versehen, setzt musiktheoretische Kenntnisse voraus. Das muss nicht unbedingt heißen, dass man ein Instrument spielen kann. Denn dafür braucht es auch Fingerfertigkeit und musikalische Fähigkeiten, wie das Gehör.«
»Dann könnte es rein theoretisch ein verkrachter Musiker sein? Jemand, der keinen Erfolg hatte?«
»Das herauszufinden, ist wohl Ihr Job. Ich kann mich nur zu diesem Instrument äußern. Was die eigentliche Dose angeht, würde ich davon ausgehen, dass sie in Europa produziert wurde, vermutlich in Sainte-Croix in der Schweiz. Das war einer der Hauptproduktionsorte für Spieldosen und Uhren. Ich tippe auf Anfang 19. Jahrhundert. Ein Hersteller ist nicht angegeben, was in einer so frühen Phase der Industrialisierung nicht unüblich war. Wenn die Melodieplatte noch original wäre, wäre das wirklich ein ganz besonderes Sammlerobjekt. Ich gehe aber davon aus, dass dieses Exemplar nicht das Einzige dieser Serie ist, obwohl ich dieses Modell noch nie zuvor gesehen habe. Solche Spieldosen wurden auch hierzulande als Spielzeuge für reiche Kinder verschenkt, und ich möchte nicht wissen, wie viele Familien so etwas noch auf ihren Dachböden herumliegen haben.«
»Und was ist mit der Melodie?«
»Traurig. Moll. Ich tippe auf ein Wiegenlied. Aber wenn ich ehrlich sein soll, habe ich diese Melodie noch nie gehört. Sie passt aber ausgezeichnet zu einer Spieldose mit ihrem ganz speziellen Klang. Ich liebe Moll-Klänge aus alten Spieldosen mit so viel Resonanz wie dieser. Das hat fast was Magisches.«
Jonas Røed ließ die Musik bis zu Ende spielen, und Singsaker musste eingestehen, dass ihn eine Gänsehaut überlief.
»Ist es nicht seltsam, dass Ihnen die Melodie nicht bekannt ist?«, fragte er.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Røed.
»Nun, schließlich arbeiten Sie doch mit so etwas. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie schon Hunderte von Spieldosen gehört haben. Außerdem interessieren Sie sich ja für Musik.«
Er warf unfreiwillig einen Blick auf Røeds T-Shirt.
»Ja, stimmt schon. Aber vielleicht ist das ja gerade der Punkt. Wer auch immer die Platte auf der Trommel ausgewechselt hat, hat das vielleicht getan, weil er keine Spieldose mit eben jener Melodie gefunden hat. Aber um das herauszufinden, gibt es Menschen, die weit mehr von Musik verstehen als ich.«
»Könnten Sie mir einen Namen nennen?«
»Wenn das tatsächlich ein Wiegenlied ist, würde ich mit Professor Jan Høybråten vom Institut für Musik sprechen. Das ist an der NTNU. Er kennt sich mit der nordischen Liedtradition wirklich aus wie niemand sonst.«
Singsaker bedankte sich, und Røed gab ihm die Spieldose mit merkwürdig verklärtem Blick zurück, den Singsaker nicht recht deuten konnte. Vielleicht hätte er sie am liebsten noch etwas behalten, um sie eingehender zu studieren.
*
Mona Gran drehte die Lautstärke der Musik in ihrem Ohrstöpsel herunter. Cult is Alive war nicht das beste Album von Darkthrones, aber trotzdem noch besser als das meiste andere. Sie hatte ihren Musikgeschmack vor ihren Kollegen nicht an die große Glocke gehängt. Jensen wusste inzwischen davon und hatte sie anfangs damit aufgezogen, indem er ihr Teufelshörner gezeigt hatte, wenn sie sich
Weitere Kostenlose Bücher