Die Melodie des Todes (German Edition)
Könnten Sie es mir noch einmal vorspielen?«
Singsaker zog die Spieldose noch einmal auf, während der Professor Papier und Bleistift zückte. Dieses Mal machte er sich beim Zuhören Notizen. Als die Melodie zu Ende war, stand vor ihm auf dem Blatt eine Notenreihe.
»Ich werde versuchen, das für Sie zu untersuchen«, sagte er. »Sollte ich etwas herausfinden, melde ich mich bei Ihnen.«
Singsaker nickte und nahm die Spieldose. Als er das Büro verließ, erhob sich der Professor, ging zum Fenster, öffnete es weit und nahm mit der linken Hand ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche.
*
Singsaker setzte sich in seinen Wagen, der auf dem großen Parkplatz vor dem Unigelände in Dragvoll stand. Teile der Hoch schule waren hier draußen auf dem Land bei einem alten Gut untergebracht. Die Aussicht vom Parkplatz über die Stadt – die eigentliche Heimat der Uni, wie viele meinten – war großartig.
Er durchsuchte seine Taschen nach seinem Notizbuch und fand es schließlich in der letzten. Er legte es auf seinen Schoß und fuhr mit dem Finger über das schwarze Leder. Es war ein Moleskin-Notizbuch. Er hatte es im letzten Sommer als Willkommensgeschenk von seinen Polizeikollegen bekommen, nachdem er seinen Gehirntumor überlebt hatte. Er hatte auch vor der OP schon diese Art von Notizbüchern genutzt, trotzdem war viel Zeit vergangen, bis er es zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. Anfangs konnte er gar nicht genau sagen, warum. Doch nach einer Weile war ihm klar geworden, dass Notizen jetzt eine andere Bedeutung für ihn hatten. Sie waren das stille Akzeptieren der Tatsache, dass sein Gedächtnis nicht mehr das Gleiche war wie vor der Operation, und dass es das möglicherweise niemals wieder sein würde. Er war vergesslich geworden, ein Mann, der nicht mehr ohne sein Notizbuch auskam. Nachdem er sich einmal damit abgefunden hatte, dass die Naturgesetze ihren Tribut forderten, dem niemand entkam, hatte sich seine Beziehung zu dem Notizbuch massiv gebessert. Erst in diesem Moment hatte er den wirklichen Wert des Geschenks verstanden. Er begann, sein Notizbuch als »seine bessere Gehirnhälfte« zu bezeichnen und notierte darin nicht nur ermittlungstechnische Details, sondern auch alles, was privat geschah, und was er nicht vergessen wollte.
Er schlug das Buch auf der letzten beschriebenen Seite auf und war überrascht zu sehen, dass er in der letzten Nacht gleich zweimal Sex mit Felicia gehabt hatte. Er musste lächeln und wäre am liebsten nach Hause gefahren, um nach ihr zu sehen. Stattdessen nahm er den Bleistiftstummel aus seiner Brusttasche und schrieb:
Høybråten wirkt nervös. Warum?
*
Fünf Minuten nach eins klingelte in Mona Grans Büro das Telefon.
»Guten Tag, hier spricht Kommissar Borten von der Dienststelle Grønland in Oslo.«
»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte Gran.
Borten verstummte, als hätte ihn ihre Hilfsbereitschaft vollkommen aus dem Konzept gebracht.
»Ähm, ich rufe an, weil ich glaube, dass ich Ihnen helfen kann«, sagte er schließlich.
»Das hört sich gut an, wir können jede Hilfe gebrauchen.«
»Es geht um das Mordopfer, das heute Nacht bei Ihnen gefunden wurde. Sie haben heute früh schon einmal angerufen und um Unterstützung gebeten. Es ist möglich, dass ich Ihnen da einen Hinweis geben kann.«
»Raus mit der Sprache!«, sagte sie und versuchte ihre Un geduld im Zaum zu halten.
»Uns liegt keine aktuelle Vermisstenmeldung vor, auf die die Beschreibung passt, aber ich musste unmittelbar an einen Fall denken, an dem ich vor ein paar Wochen gearbeitet habe. Der ist mir vermutlich wegen der Adresse in Erinnerung geblieben. Als Kind wohnte ich nicht weit vom Kuhaugen entfernt, weshalb ich mich in der Gegend ziemlich gut auskenne. Die Ludvig Daaes gate lag auf meinem Schulweg, als ich in Rosenborg zur Schule ging. Vermutlich habe ich mich deshalb an die Vermisstenmeldung erinnert, die etwa vor drei Wochen bei uns einging. Eine Frau aus Oslo. Sie wurde von der Freundin vermisst gemeldet, mit der sie zusammenwohnt. Knapp einen Tag später hatte die Vermisste sich vom Bahnhof in Trondheim bei ihrer Freundin in Oslo gemeldet und ihr erzählte, dass sie einen Exfreund treffen wollte, der in die Stadt gezogen war. Wir haben den Fall zu den Akten gelegt, aber aus Routinegründen habe ich noch einmal überprüft, wo dieser Freund gewohnt hat. Er wohnt nicht weit vom Kuhaugen entfernt, im Skyåsvegen. Bei der Überprüfung habe ich aber auch gesehen, dass eben dieser Freund
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