Die Melodie des Todes (German Edition)
morgens begegneten. Alte Menschen können ganz schön kindisch sein. Inzwischen hatte Jensen aufgehört, sie zu mobben.
Singsaker hingegen wusste nicht, was für Musik sie hörte, er hielt sie bestimmt noch immer für das bravste Mädchen des gan zen Präsidiums. Was vielleicht sogar stimmte, alles in Betracht gezogen. Sie wusste nicht recht, wie sie Singsaker einschätzen sollte. Er behandelte sie, als wäre er ihr Vater, und sie ließ es geschehen. In gewisser Weise gefiel ihr das sogar. Außerdem hatte sie nicht das Gefühl, ihren Musikgeschmack vor ihm geheim halten zu müssen. Das Thema war zwischen ihnen einfach noch nicht aufgekommen. Sie vermutete eher, dass er sich über haupt nicht für Musik interessierte und wahrscheinlich nicht einmal wusste, was »Black Metal« war.
Sie konnte sich einfach besser konzentrieren, wenn sie Musik hörte, und das war bei der Kleinarbeit, die jetzt folgte, bitter nötig. Es war halb elf und bei der Polizei in Trondheim war noch keine neue Vermisstenmeldung eingegangen. Natürlich musste das nichts heißen, häufig verging viel Zeit, bevor jemand vermisst gemeldet wurde. Vielleicht wohnte die Frau, die sie zu identifizieren versuchten, allein, oder sie war eine Stu dentin, die nur wenige Freunde in der Stadt hatte. Oder sie hatte ihren Täter auf dem Rückweg von einem späten Fest getroffen und ihre Freunde gingen davon aus, sie schliefe sich in einem fremden Bett ihren Rausch aus. Aber die Polizei konnte nicht einfach darauf warten, dass jemand ihr Fehlen bemerkte. Gro Brattberg hatte eingewilligt, die Beschreibung der Frau an die Presse zu geben, und in einigen Onlinemedien war sie be reits veröffentlicht worden. Die Personenbeschreibung war aber ziem lich nichtssagend: dunkelblonde Haare, blaue Augen, mittelgroß, zwischen zwanzig und dreißig, hübsch, ohne besondere Kennzeichen. Alles Angaben, die vermutlich zu einer Unmenge von Tipps und Überstunden führten. Häufig aber lag die Lösung eines solchen Falls eben in dieser Unmenge von Material verborgen. Die wenigsten entscheidenden Durch brüche waren auf geniale Einfälle zurückzuführen, sondern auf den methodischen, gründlichen Durchgang einer auf den ersten Blick endlosen Reihe sinnloser Informationen.
Während sie darauf warteten, dass die Hinweise eingingen, widmete sie sich unter anderem der Frage, ob die Tote mögli cherweise aus einem anderen Ort kam oder bereits längere Zeit vermisst wurde.
Jedes Jahr wurden in den unterschiedlichen Polizeidistrikten des Landes mehr als tausend Personen vermisst gemeldet. Bei den meisten handelte es sich um junge Menschen. In der Regel verschwanden sie aus irgendwelchen Heimen oder Einrichtungen, bis sie später in einem zwielichtigen, großstäd tischen Umfeld wieder auftauchten. Nur sehr selten wurden ver misste Personen tot aufgefunden wie in diesem Fall die Frau ohne Kehlkopf.
Sie studierte das Bild, das sie von Grongstad erhalten hatte, und versuchte sich Stichworte für die Gespräche mit den anderen Polizeidistrikten und die Internetsuche zu machen, mit der sie als Erstes beginnen wollte. Natürlich bekam sie viel zu viele, unbefriedigende Treffer. Sie starrte auf die kleinen, grobkörnigen Bilder der jungen Frauen und fragte sich, wo sie alle abgeblieben waren. Keine davon sah aus wie ihre Tote.
Sie drehte die Musik lauter und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Entweder lande ich gleich einen Glückstreffer, dachte sie, oder die Sache wird verdammt langwierig. Sie streckte sich aus, schloss die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. Dabei legte sie wie automatisch ihre Hand unterhalb des Nabels auf ihren Bauch. Sie machte das ziemlich oft. Vielleicht hoffte sie, dass ihre Hände heilende Kräfte hatten, von denen sie noch nichts wusste. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und vor einigen Monaten waren ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden. Beinahe zwei Jahre lang hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen, aber immer wieder hatte sie mit zermürbender Regelmäßigkeit ihre Tage bekommen. Es war deshalb kein Schock mehr gewesen, als sie erfahren hatte, dass ihre Eileiter verstopft waren, vermutlich infolge einer Entzündung, die sie überhaupt nicht bemerkt hatte. Nach zahlreichen weiteren Tests und Untersuchungen war ihr die endgültige Diagnose mitgeteilt worden. Es sei nicht unmöglich, auf natürliche Weise ein Kind zu bekommen, aber sehr, sehr unwahrscheinlich, hatte ihr Arzt gesagt. Die Voraussetzungen für eine künstliche Befruchtung
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