Die Melodie des Todes (German Edition)
bedrängt hat?«
»Nein, … aber …«
»Aber was?«
»Ich bin letzte Woche einmal mit ihr gegangen. Da war so ein Typ, der in seiner Einfahrt Schnee geschoben hat. Der hat sie angesprochen.«
»Weißt du noch, was er gesagt hat?«
»Er hat sie gefragt, warum sie an diesem Abend nicht singt. Julie singt immer, wenn sie allein unterwegs ist. Doch dann hat er mich gesehen, ich war ein Stückchen hinter Julie, und hat nichts mehr gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass Julie ihn kannte.«
»Weißt du, woher sie ihn kannte?«
»Nein, ich habe sie auch nicht gefragt.«
Singsaker bat Fredrik, den Mann und das Haus, in dem er wohnte, zu beschreiben, notierte alles in seinem Buch mit der Anmerkung, das näher zu überprüfen, und dachte: Es gibt eine Parallele zwischen Julie Edvardsen und dem Mordopfer am Kuhaugen: Beide haben gesungen, wenn sie spazieren gingen. Zufall?
Die beiden ersten Freundinnen von Julie, die auf Singsakers Liste standen, wussten noch weniger zu erzählen als Fredrik Alm. Keine von beiden war nach der Party am Samstag noch einmal mit Julie zusammen gewesen. Auf dem Fest hatte sie sich vollkommen normal aufgeführt.
Singsaker wartete nun auf die nächste Freundin, die aus dem Klassenzimmer zu ihm kommen sollte. Er starrte abwesend auf die Kritzeleien auf der Tischplatte, bis er registrierte, dass dort der Name seiner nächsten Zeugin stand. Er versuchte die Schrift mit Spucke wegzureiben, aber sie ließ sich nicht entfernen, also legte er schließlich sein Notizbuch darauf. Was allerdings bedeutete, dass er sich unnatürlich lang machen musste, wenn er etwas aufschreiben wollte.
Nadia Torp hatte etwas tiefer in den Schminkkasten gegriffen als die anderen beiden Mädchen, mit denen Singsaker gesprochen hatte, aber trotzdem nicht übertrieben. Über einem großen, alten T-Shirt der guten alten norwegischen Punkband Kjøtt, das sie vermutlich von ihrem Vater oder einem coolen Onkel bekommen hatte, trug sie eine teuer aussehende, rost braune Strickjacke mit Rüschen an den Ärmeln. Singsaker fand, dass sie ganz und gar nicht wie eine Hure aussah, eher cool.
Sie hielt seinem Blick lange stand, als sie ihm die Hand gab. Dann setzte sie sich, ohne sonderlich aufgeregt zu wirken.
»Was ist mit Julie passiert?«, fragte sie.
»Das versuchen wir herauszufinden. Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«
»Echt?«
»Du verstehst vielleicht, dass wir deshalb allen, die sie kennen, Fragen stellen müssen.«
»Klar.«
Nadia Torp wirkte mit einem Mal nicht mehr so selbstsicher.
»Wann hast du Julie zuletzt gesehen?«
»Bei der Chorprobe am Freitag.«
»Warst du nicht auf der Party am Samstag?«
»Ich war nicht eingeladen.«
»Aber du singst mit Julie im Chor?«
»Ja, im Mädchenchor des Nidarosdoms.«
Singsaker notierte sich das.
»Sie brauchen Ihr Notizbuch nicht auf meine Seite des Tischs zu legen«, sagte sie. »Ich weiß, was da steht.«
Singsaker sah sie betreten an und zog das Buch zu sich.
»So was ist nicht nett.«
»Vielleicht stimmt es ja«, erwiderte sie.
Er wurde rot und fragte sich, ob er darauf etwas entgegnen sollte, ignorierte ihren Kommentar dann aber.
»Habt ihr jeden Freitag Chorprobe?«
»Nein, eigentlich Dienstag und Donnerstag. Das war eine Sonderprobe in Ringve, ein paar von uns sind ausgewählt worden, um bei dem Konzert am Wochenende zu singen.«
Singsaker dachte nach und blätterte in seinem Notizbuch zurück.
»Konzert in Ringve«, sagte er. »Bellman, nicht wahr? Dirigiert da nicht Professor Høybråten?«
Nadia nickte. Und Singsaker glaubte, in ihrem Blick etwas zu erkennen, dem er nachgehen wollte.
»Dann ist Julie auch für dieses Konzert ausgewählt worden?«
»Machen Sie Witze? Sie ist die Beste von uns. Niemand hat so eine Stimme wie sie. Sie sollten sie singen hören. Es ist vollkommen klar, dass sie Høybråtens erste Wahl ist.«
»Kann Julie noch mehr als singen?«
»Julie kann alles, Schule, Handball, alles!«
»Ist sie beliebt?«
»Ja, komischerweise schon.«
»Warum komisch?«
»Na ja, normalerweise weckt das schnell Neid, wenn jemand so begabt ist wie Julie. Aber sie gibt damit nie an. Sie verhält sich wie wir anderen auch.«
»Was macht sie am liebsten?«
»Singen, das ist für sie wirklich das Größte von allem. Sie singt ständig, sogar während der Handballspiele. Sie freut sich wie wahnsinnig auf das Konzert am Wochenende.«
Singsaker schaffte es nicht, den anderen Fall, an dem sie arbeiteten, vollständig auszublenden.
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