Die Melodie des Todes (German Edition)
fragte Høybråten und warf einen Blick aus dem Fenster auf die kahlen Winterzweige.
»Ich habe mich gerade mit einem der Mädchen unterhalten«, sagte Singsaker.
»Und, was sagt sie?«
»Was glauben Sie?«
»Ich glaube gar nichts. Und dieses Gespräch ist jetzt vorüber. Wenn Sie mir irgendetwas vorzuwerfen haben, besorgen Sie sich einen Haftbefehl, und sollten wir noch einmal miteinander reden – dann nur im Beisein meines Anwalts.«
So etwas sagt doch kein Unschuldiger, dachte Singsaker und fühlte sich mit einem Mal sehr, sehr müde. Die Polizei hatte nichts, aber auch gar nichts in der Hand, um Anklage gegen den Professor erheben zu können, was der genau zu wissen schien.
Es blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als sich für das Gespräch zu bedanken und wieder zu gehen.
Als er über den Blussuvollsbakken nach unten ging, rief er Mona Gran an. Sie war mit ihrer Runde fast fertig und sie ver abredeten einen Treffpunkt in der Bernhard Getz’ gate. Singsaker sah Gran schon durch die Schneeflocken, als er sich dem vereinbarten Ort näherte.
»Was für ein Wetter«, sagte sie munter.
Er heftete seinen Blick auf ihre Uniformjacke.
»Wie weit sind wir?«
Sie hatte wenig zu erzählen. Niemand hatte Julie Edvardsen und ihren Hund am vergangenen Abend gesehen, und so hatte auch keiner eine Ahnung, wo sie stecken könnte. Die wenigen, die sie überhaupt kannten, bezeichneten sie als vernünftiges junges Mädchen, das nie Blödsinn machte. Gran hatte in der Zwischenzeit auch mit Brattberg telefoniert. Ihre Chefin hatte ihr mitgeteilt, dass alle Versuche, Julie bei Verwandten oder Freunden der Familie aufzuspüren, bisher ergebnislos geblieben waren. Gran hatte ihr mündlich die Adressen mitgeteilt, an de nen sie aber niemanden angetroffen hatte. Sie würde es im Laufe des Abends noch einmal probieren.
Singsaker fasste sein Gespräch mit Nadia Torp und den kurzen Besuch bei Jan Høybråten zusammen.
»Du weißt, was das bedeutet?«, fragte sie erregt.
»Ja, dass es durchaus möglich wäre, dass Høybråten doch mehr über die Melodie der Spieldose weiß, als er zugeben will«, sagte er zögerlich. »Wahrscheinlicher ist aber, dass er einfach nur ein alter Bock ist.«
»Wie auch immer«, sagte Gran. »Auf jeden Fall haben wir jetzt einen möglichen Verdächtigen. Er ist vielleicht nicht der ganz große Wurf, aber jemand, mit dem es sich weiterzuar beiten lohnt. Wir können ihn zum Verhör bestellen, sein Alibi überprüfen und die anderen Chormädchen verhören. All das tun, was wir gut können. Mensch, Singsaker, endlich kommt Bewegung in die Sache.«
»Möglich«, antwortete er etwas abwesend.
»Aber es passt bei Weitem nicht alles zusammen. Unter anderem das mit dem Alter«, fuhr Gran fort. »Kann ein Mann um die siebzig eine Frau derart schlagen und prügeln, wie unser Tä ter es mit Silje Rolfsen getan hat?«
»Das würde ich nicht ausschließen«, sagte Singsaker. »Rein physisch ist Høybråten in guter Form. Außerdem neigen wir dazu, alte Menschen zu unterschätzen. Silje Rolfsen war eine recht zierliche junge Frau, und Høybråten ist definitiv stärker.«
»Dazu kommt, dass sich der Täter aller Wahrscheinlichkeit nach mit Musik und Bänkelliedern auskennt«, fügte sie hinzu.
»Stimmt, Gran. Wir sollten der Sache nachgehen«, musste er einräumen.
Doch jetzt war erst einmal Essenszeit. Sie musste hoch nach Tyholt zu ihrem Lebensgefährten und ihren beiden Katzen und er runter nach Møllenberg. Er blieb stehen und sah seiner Kollegin nach, bis sie hinter der Kurve in der Veimester Kroghs gate verschwand.
Als er loslaufen wollte, geriet er ins Stolpern und fand sich auf dem Boden wieder. Sein Blick wanderte zum Waldrand auf der anderen Straßenseite. Erst vor wenigen Tagen hatten sie dort die Tote gefunden, und jetzt lag er hier platt auf dem Bauch mit Aussicht auf die Fundstelle. Und was hatten sie in der Zwischenzeit ausgerichtet? Nichts. Sie waren noch weit davon entfernt, den Mörder von Silje Rolfsen zu finden.
Singsaker stand auf und wischte sich den Schnee vom Mantel, als ihm einfiel, dass er ja sein Notizbuch in der Schule ver gessen hatte. Er ging auf dem Weg nach unten dort vorbei, aber sie war schon geschlossen.
14
D er Winter drängte von irgendwoher ins Haus hinein. Elise Edvardsen ging dem kalten Luftzug entgegen, um zu sehen, woher er kam. Erst glaubte sie, die Haustür stünde offen. Das Holz verzog sich bei der Kälte immer und schloss häufig schlecht. Die Tür war zu.
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