Die Melodie des Todes (German Edition)
Er dachte an die Spieldose und die entfernten Stimmbänder. Wenn es wirklich eine Verbindung gab, dann hatte das mit dem Singen zu tun.
»Ist Jan Høybråten eigentlich ein guter Dirigent?«
»Er ist in vielem gut«, sagte Nadia säuerlich.
»Wie meinst du das?«
»Ach, vergessen Sie’s«, sagte sie, sah aber wohl selbst ein, dass das nicht sehr überzeugend klang.
»Ist er ein guter Lehrer?«
»Das auch. Das heißt, ich weiß es nicht.«
»Was weißt du nicht?«
»Ein Lehrer tut so was nicht.«
»Ein Lehrer tut was nicht?« Singsaker atmete ganz ruhig. Das Gefühl, das er jetzt hatte, kannte er von der Jagd mit Jensen. So fühlte es sich an, wenn sie ein Tier vor sich hatten und zum Schuss anlegten. Eigentlich ging er nur wegen diesem Gefühl mit auf die Jagd. Der Rest bestand in der Regel aus Kälte, Hunger und steifen Gliedern.
»Vergessen Sie’s!«
»Was soll ich vergessen?«
»Das, was ich gesagt habe. Ich mag ihn einfach nicht, das ist alles. Ich finde ihn irgendwie unangenehm.«
»Unangenehm?«
»Ja, verstehen Sie nicht, er ist alt, ach, was weiß ich?«
»Hat er dir etwas angetan, Nadia?«, fragte Singsaker und sah sie direkt an. Das Beutetier zog sich langsam ins Dickicht zurück.
»Wollten Sie nicht über Julie reden?«, fragte sie.
Es war zu spät, sah er ein. Was immer in ihrem Gespräch aufge blitzt war, war verschwunden. Nadia Torp wirkte mit einem Mal weniger offen und selbstsicher als zu Beginn. Und in einer Sache hatte sie recht: Er war von dem eigentlichen Fall abgewichen.
»Kennst du jemanden, bei dem Julie sein könnte?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie verschlossen.
»Niemanden, über den sie gesprochen hat, Verwandte, die sie besonders mochte, oder vielleicht Freunde, von denen sonst nie mand weiß?«
»So gut kenne ich sie dann auch wieder nicht«, sagte Nadia Torp.
Mit einem unguten Gefühl ließ Odd Singsaker sie zurück in ihre Klasse gehen. Sie hatte etwas angesprochen, ihm etwas anvertrauen wollen. Hätte er sie stärker unter Druck setzen müs sen? Vielleicht hat sie mir aber auch gerade genug gesagt, dachte er, und rief Mona Gran an.
»Wie läuft’s bei dir?«, fragte er, als seine Kollegin sich meldete.
»Ich habe oben in der Statsingeniør Dahls gate angefangen«, sagte sie. »Viel gefunden habe ich nicht. Und du? Wie läuft es in der Schule?«
»Aus diesem Fredrik Alm werd ich nicht recht schlau. Aber das liegt wohl am Alter. Er wirkt wie ein harmloser Junge.«
»Die Harmlosen sind manchmal die Gefährlichsten, das weißt du, oder?«
»Ja, aber ich zweifle ehrlich daran, dass er etwas damit zu tun hat. Er ist genauso verwirrt wie wir.«
»Und die Freundinnen?«
Als er das Gespräch mit Nadia Torp wiedergab, ließ er bewusst bestimmte Details aus. Dann legte er auf, steckte das Handy in seine Tasche, drehte sich um und verließ die Schule.
Draußen blieb er stehen und sah über die Festningsgata zum Kastell auf der Festung Kristiansten. Er riss sich aus seinen Fantasien los und konzentrierte sich auf den Fall. Dann holte er wieder sein Handy heraus und rief im Institut für Musik an.
Jan Høybråten arbeitete an diesem Tag zu Hause, teilte seine Sekretärin ihm mit, und gab ihm Adresse und Handynummer des Professors.
Singsaker machte sich auf den Weg. Er steckte das Handy weg und marschierte in Richtung des Stadtteils, dessen Namen er trug.
*
Jan Høybråten, Professor für Musiktheorie am Institut für Musik an der NTNT, legte die Hanteln zurück in die Schublade seines Schreibtischs und atmete aus. Er war ein alter Mann, aber er trainierte noch immer jeden Tag und fühlte sich stark und jung. Einen Tag in der Woche arbeitete er zu Hause und widmete sich einem Hobbyprojekt: er übersetzte die Gedichte des schwedischen Poeten Lars Wivallius aus dem Schwedisch des 17. Jahrhunderts ins Norwegische. Diese Gedichte, die ursprünglich vertont worden waren, galten als früheste Beispiele des schwedischen Bänkelgesangs, doch da man damals noch kaum etwas gedruckt hatte, waren die Melodien verloren ge gangen und nur die Texte als Gedichte erhalten geblieben. Wie die Lieder vor vierhundert Jahren in den Gasthäusern der Stockholmer Altstadt geklungen hatten, würde nie jemand erfahren. Trotzdem hatte Høybråten das Gefühl, den Melodien dieser Lieder irgendwie näherzukommen, wenn er die Texte übersetzte.
Als es an der Tür klingelte, war er tief in einem Lied versunken, das den Namen »Wivallius’ Traum« trug. Verärgert bat er seine Frau, die Tür zu
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