Die Melodie des Todes (German Edition)
wieder!« Singsaker war in Gedanken bei der Mord serie, die er im gerade erst vergangenen Herbst bearbeitet hatte. Die sogenannten Palimpsestmorde, bei denen mehrere Leichen gehäutet worden waren.
»Er hat irgendetwas aus ihrem Hals entfernt. Erst dachten wir, er hätte ihr nur die Kehle durchtrennt. Aber dann haben wir das hier gefunden.«
Grongstad öffnete den Koffer, der vor seinen Füßen stand, und nahm eine Plastiktüte heraus. In ihr lag ein kurzes, röhrenförmiges Organ. Jemand hatte es mit einem Messer zerschnitten. »Wir glauben, das ist der Kehlkopf«, fuhr Grongstad fort. »Oder das, was davon noch übrig ist. Er scheint an dieser Stelle noch mehr entfernt zu haben, aber wenn du da Genaueres wissen willst, musst du da natürlich Kittelsen fragen.«
»Kittelsen, ja«, sagte Singsaker und kaute auf seiner Zunge. Dr. Kittelsen war der Leiter des Laboratoriums für Pathologie und medizinische Genetik am St.-Olavs-Hospital und bekannt als Norwegens mürrischster und zugleich exaktester Rechtsmediziner. Singsaker mochte ihn.
»Ja, Kittelsen wird uns sicher sagen können, was hier passiert ist«, erwiderte er. »Aber eben nicht, warum. Was denkst du, nach allem, was du gesehen hast?«
»Tja, schwer zu sagen. Da wäre auch noch diese Spieldose. Die stand auf dem Bauch der Toten. Durch die ist die Zeugin ja erst auf die Tote aufmerksam geworden. Wenn sie nicht diese Melodie gehört hätte, wäre sie einfach vorbeigegangen, und dann würde die Tote jetzt unter einem halben Meter Schnee lie gen. War das ein Fehler des Täters oder ein bewusster Schachzug? Und was will uns diese Spieldose sagen?« Grongstad hatte das Instrument aus seinem Koffer genommen.
Singsaker sah sich die kleine Ballerina an und erkannte gleich, dass es sich nicht um Massenware handelte. Die Haare der Figur sahen wie echte Menschenhaare aus und die Gesichtszüge waren handgemalt. Die Figur war ein Unikat.
»Die Melodie habe ich noch nie gehört«, sagte Grongstad und zog die Spieldose auf. »Du?«
Er ließ den Schlüssel los und die beiden Polizisten lauschten den Tönen.
Schließlich zuckte Singsaker entschuldigend mit den Schultern und sagte: »Du weißt doch, ich und Musik.«
4
E r schlief und war wieder im Wald. Es war die gleiche Nacht. Die Leiche lag vor seinen Füßen.
Es klarte auf, über sich konnte er den riesigen Mond sehen. Wolken hasteten vorbei, und für einen verrückten Moment sah es aus, als wären sie es, die stillstanden, während der Mond völlig losgelöst über den Himmel raste. Er fühlte sich klein wie eine Schneeflocke. Auf den ersten Blick glaubte er, eine Wolkenformation auf sich zukommen zu sehen. Aber es war ein Mann, der mit einem großen, zusammengerollten Blatt in den Händen über den Himmel spazierte. Vielleicht waren das seine Noten, dachte er, sein Lied. Bestimmt war das sein Lied. Das Gesicht des Mannes war im Schatten seiner Hutkrempe verborgen.
Hinter ihm kam der Mann mit der Violine, gefolgt von Män nern, die einen Sarg trugen.
Zu guter Letzt hörte er die Musik, nach der sie marschierten. Schritt für Schritt über den Himmel. Riesen, die eine Bürde zu tragen hatten und gemessen im Takt der Zeit daherkamen. In diesem Sarg liegt Vater, dachte er.
Dann wachte er auf, starrte an die schmutzige Decke seines Zimmers und ärgerte sich, dass der Traum nicht länger gedauert hatte.
Aber was soll’s? Ich habe geträumt. Zum ersten Mal seit Wochen habe ich wieder geträumt, dachte er. Aber nicht ihr Gesang hatte ihn zum Träumen gebracht. Der hatte nicht die erwartete Wirkung gezeigt.
*
Es war Viertel vor sieben. Streng genommen früh, aber Singsaker war nicht mehr müde. Sein Kopf fühlte sich erstaunlich klar an, obwohl er seinen täglichen Aquavit noch gar nicht getrunken hatte – oder vielleicht deshalb?
Sie hatten sich im Sitzungszimmer des Dezernats im Trond heimer Präsidium versammelt und alle nur verfügbaren Kannen mit Kaffee gefüllt. Mit dabei war auch die Dezernatsleiterin, Gro Brattberg, die die Sitzung durch einen ihrer nicht enden wollenden Toilettenbesuche eine Viertelstunde verzögert hatte. Ebenfalls anwesend war Hauptkommissar Thorvald Jensen, der einzige Polizist, mit dem Singsaker auch privat verkehrte. Er be mühte sich redlich, Jensens Interesse für die Jagd und das Eisbaden zu teilen, dabei war es eigentlich mehr die innere Ruhe, die Jensen ausstrahlte, die ihn anzog. Jensen erinnerte Singsaker daran, wie er selbst sein könnte, wenn seine Gedan ken nicht
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