Die Melodie des Todes (German Edition)
nein«, sagte Høybråten.
»Wie meinen Sie das?«
»Vor einigen Jahren wurde bei Restaurierungsarbeiten im Gut Ringve ein Brief gefunden. Er steckte in einer Wand des Flügels, der noch aus dem 18. Jahrhundert stammt. Dieser Brief wurde allerdings unmittelbar nach dem Fund gestohlen, weshalb niemand die Gelegenheit hatte, ihn gründlich zu prüfen. Es heißt aber, dass es in diesem Brief um eben jenen Jon Blund ging.«
»Und niemand weiß, wer diesen Brief gestohlen hat?«
»Nicht, dass ich wüsste. Wenn, dann die Polizei«, sagte Høybråten spitzfindig.
Singsaker stand auf und beschloss, dass sie die Jon-Blund-Spur jetzt lange genug verfolgt hatten, schließlich gab es auch noch einige andere Gründe, weshalb sie Høybråten herbestellt hatten.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im Klaren sind, aber seit gestern Abend betrachten wir den Mord am Kuhaugen und das Verschwinden von Julie Edvardsen als zwei Aspekte des gleichen Falls.«
»Aha«, sagte Høybråten ohne eine sonderliche Gemütsregung.
»Darf ich fragen, warum?«, warf Anwalt Bjugn ein.
»Bis auf Weiteres dürfen wir noch keine Informationen her ausgeben. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es gestern Abend eine Konfrontation zwischen dem Täter und Julie Edvardsens Eltern gegeben hat, bei der dem Täter eine blutende Wunde zugefügt wurde. Wie groß diese Wunde ist, wissen wir allerdings nicht. Diese Verletzung gibt uns aber die Möglichkeit, alle Per sonen, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Tat in Verbindung stehen, ein für alle Mal als Täter auszuschließen. Wir haben DNA-Material des Täters und wissen, dass er irgendwo am Körper verletzt ist. Wir hoffen nun, dass Sie, Professor Høybråten, bereit sind, sich von einem Arzt auf mögliche Wunden untersuchen zu lassen. In Ihrem eigenen Interesse und weil Sie die Ermittlungen dadurch voranbringen«, schloss Singsaker, zufrieden über seine diplomatische Formulierung.
Høybråten sah unsicher zu Bjugn, der ihm kaum merkbar zunickte.
»Nun denn«, seufzte er schließlich. »Wenn das nötig ist.«
Gran stand auf und begleitete Jan Høybråten zur Unter suchung, während Singsaker in sein Büro ging.
21
H allo, hier ist Siri Holm von der Gunnerusbibliothek. Ich hatte Sie angerufen, weil ich einen Polizeibericht aus dem 18. Jahrhundert ausleihen wollte. Es drängt ein bisschen. Andererseits hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie ein so altes Dokument nicht per Boten schicken wollen. Wenn Ihnen das lieber ist, kann ich auch gern persönlich bei Ihnen im Dora vorbeikommen.«
Siri Holm saß an ihrem freien Tag in ihrem Büro. Sie gähnte, einerseits über ihren formellen Ton, andererseits, weil es bereits Nachmittag war und sie den ganzen Tag noch nicht mehr als zwei Tassen Tee zu sich genommen hatte.
»Ja, Fräulein Holm, ja ich weiß. Ich wollte Sie auch gerade anrufen«, sagte eine höfliche, freundlich klingende Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Archivar Erik Nilsen.
Sie wusste, dass ihr Gesprächspartner irgendwo im Dora saß. Im deutschen phonetischen Alphabet repräsentierte Dora den Buchstaben D für Drontheim, und das Gebäude, in dem das Archiv untergebracht war, stammte tatsächlich von den Deutschen, die es während des Krieges ursprünglich als monströsen U-Boot-Bunker gebaut hatten. Dach und Wände waren aus armiertem Beton und mehr als drei Meter dick. Die Konstruktion war so solide, dass man nach dem Krieg nie versucht hatte, sie einzureißen. Und eine Sprengung hätte so viel Dynamit erfordert, dass dadurch die umliegende Stadt gefährdet gewesen wäre, hieß es. Außerdem wäre ein Abriss extrem kostspielig gewesen. Stattdessen war das Gebäude für eine Krone verkauft worden. Eine Investition, die sich gelinde gesagt gelohnt hatte. Inzwischen war das Dora so etwas wie eine geschützte Landmarke in der Hafengegend, für die es immer neue Mietinteressenten gab.
»Ich habe gerade mit der Polizei gesprochen«, sagte Nilsens Stimme.
»Mit der Polizei?«, fragte sie. »Sagen Sie nicht, dass das Dokument gestohlen wurde?«
»Doch, genau das ist der Fall. Der Bericht war zusammen mit anderen in einer Archivschachtel abgelegt. Als ich ihn gestern holen wollte, habe ich festgestellt, dass er nicht mehr in der Schachtel war.«
»Ich hatte mir schon fast so etwas gedacht«, sagte sie. »Wer hat Zugang zu dem Archiv?«
»In der Regel kann da jeder rein. Es kommen aber nur Wis senschaftler, Historiker oder auch mal Schriftsteller, Leute ohne böse Absichten,
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