Die Memoiren des Grafen
schaute in die Höhe. Das Stöhnen wiederholte sich. Er blickte sich hastig nach allen Seiten um. Carlo war noch nicht in Sicht. Anthony hielt sich an den Weinranken fest und kletterte am Haus empor, bis er ein Fenstersims im ersten Stock erreichen konnte. Das Fenster war geschlossen, aber ein kleines mitgeführtes Werkzeug half Anthony rasch, das Hindernis zu beheben.
Er lauschte einen Augenblick und sprang dann leichtfüßig ins Zimmer. In der Ecke stand ein Bett, und darauf lag ein Mann, dessen Gestalt in der Dunkelheit kaum erkennbar war.
Anthony glitt zum Bett hinüber und hielt seine Taschenlampe auf den Mann gerichtet. Er erblickte ein fremdes Gesicht, bleich und abgezehrt, die Stirn verbunden. Der Mann war an Händen und Füßen gefesselt.
Anthony beugte sich über ihn – doch im gleichen Moment hörte er ein Geräusch hinter sich. Er schwang herum, und seine Hand glitt in die Jackentasche.
Doch ein scharfer Befehl ließ ihn innehalten.
«Hände hoch, mein Junge! Sie erwarteten wohl nicht, mich hier zu sehen!»
Mr Hiram Fish stand auf der Schwelle. Er lächelte, und seine Hand hielt eine große automatische Pistole auf Anthony gerichtet.
25
L ord Caterham, Virginia und Bundle saßen nach dem Abendbrot in der Bibliothek. Dreißig Stunden waren seit dem dramatischen Verschwinden von Anthony verflossen.
Zum siebenten Mal bereits wiederholte Bundle die letzten Worte, mit denen sich Anthony von ihr verabschiedet hatte:
«Ich finde schon eine Möglichkeit zur Rückkehr. Das klingt nicht so, als ob er lange wegzubleiben gedachte.»
«Sagte er denn nicht, wo er hin wollte?», fragte Lord Caterham.
«Nein», entgegnete Virginia und blickte starr vor sich hin. «Nein, er sagte gar nichts.»
«Ich gebe zu, dass ich altmodisch und unvernünftig bin», knurrte Lord Caterham. «Aber ich verstehe diese Art nicht, einfach nach Lust und Laune zu kommen und zu verschwinden. Ein Landsitz ist doch kein Hotel.»
«Du bist ein alter Brummbär», erklärte Bundle. «Du hast doch immer noch Virginia und mich. Was willst du denn mehr?»
«Gar nichts, gar nichts», versicherte Lord Caterham hastig. «Wir hatten einen wundervollen, friedlichen Tag. Keine Diebe oder andere Verbrecher, keine Detektive, keine Amerikaner. – Ich wäre nur so viel ruhiger gewesen, wenn ich mich wirklich sicher gefühlt hätte. Aber die ganze Zeit musste ich mir sagen: Der eine oder der andere kann jeden Moment wieder auftauchen. Und das verdarb mir den ganzen Frieden.»
«Aber niemand ist aufgetaucht», lachte Bundle. «Man hat uns völlig in Ruhe gelassen – verlassen wäre besser gesagt. Es ist merkwürdig, wie Fish plötzlich verschwand. Sagte er nichts?»
«Nicht ein Wort. Als ich ihn zuletzt sah, stelzte er im Rosengarten herum und rauchte eine seiner scheußlichen Zigarren. Und gleich darauf scheint er sich in Luft aufgelöst zu haben.»
«Vielleicht hat ihn jemand entführt», überlegte Bundle.
«Du wirst sehen, in ein oder zwei Tagen haben wir ganz Scotland Yard hier, und sie baggern den See aus, um seine Leiche zu suchen», sagte ihr Vater düster.
Seine Klagen wurden von Tredwell unterbrochen.
«Der französische Detektiv ist hier, Mylord», meldete er. «Er bittet, ein paar Worte mit Ihnen sprechen zu dürfen.»
«Was habe ich gesagt?», knurrte der Lord. «Es war zu schön, um so zu bleiben. Verlasst euch darauf, sie haben den toten Fish im Goldfischbecken gefunden.»
Tredwell behielt seine respektvolle Miene bei.
«Was darf ich ihm sagen, Mylord?»
«Führen Sie ihn herein.»
Der Franzose näherte sich mit leichten, raschen Schritten.
«Guten Abend, Lemoine», bemerkte der Lord. «Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?»
«Danke, nein.» Er verneigte sich korrekt vor den beiden Damen. «Endlich mache ich Fortschritte. Wie die Dinge jetzt liegen, fühle ich mich verpflichtet, Sie in meine Entdeckungen einzuweihen.»
«Ich dachte mir schon, dass etwas Unangenehmes in der Luft lag», meinte Lord Caterham.
«Mylord, gestern Nachmittag verließ einer Ihrer Gäste das Haus auf sehr eigentümliche Art und Weise. Ich gestehe, dass ich von Anfang an ein gewisses Misstrauen gegen ihn hegte. Hier haben wir einen Mann, der aus dem wilden Afrika kommt. Vor zwei Monaten war er wirklich dort. Wo aber lebte er früher?»
Virginia zog scharf den Atem ein. Einen Moment blickte der Franzose sie unbeweglich an. Dann fuhr er fort:
«Wo lebte er früher? Niemand weiß es. Und er ist genau die Art Mensch, die ich suche:
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