Die Menschenleserin
war ganz begeistert davon. Ich weiß noch, wie er feierlich den Fernseher aus dem Haus verbannt hat. Fast jeden Abend habe ich dann laut vorgelesen, während die anderen alle im Kreis am Boden saßen. Das war immer schön.«
»Gab es in Seaside Nachbarn oder irgendwelche Freunde, mit denen er engeren Kontakt gepflegt hat?«
»Wir hatten keine Freunde«, sagte Rebecca. »Das war nicht nach Pells Geschmack.«
»Aber manchmal kam jemand vorbei, den er kannte, ist eine Weile geblieben und wieder gegangen. Daniel hat immer neue Leute aufgegabelt.«
»Verlierer wie uns.«
Linda versteifte sich ein wenig. »Ich würde eher sagen, Leute mit einer Pechsträhne«, widersprach sie dann. »Daniel war großzügig. Er hat ihnen zu essen gegeben und bisweilen auch Geld.«
Gib einem Hungrigen zu essen, und er tut, was du willst, dachte Dance und erinnerte sich an Kelloggs Profil eines Kultführers und seiner Gefolgschaft.
Sie schwelgten weiter in Erinnerungen, aber keine der beiden wusste mehr, wer diese Hausgäste gewesen sein könnten.
Dance wechselte das Thema. »Pell hat kürzlich im Internet nach einigen Begriffen gesucht. Womöglich können Sie ja etwas damit anfangen. Einer war ›Nimue‹. Das könnte ein Name sein. Vielleicht ein Spitzname oder ein Pseudonym.«
»Nein, das habe ich noch nie gehört. Wofür steht es?«
»Das ist eine Figur aus der Sage um König Artus.«
Rebecca sah die jüngere Frau an. »Hast du uns je Geschichten dieser Art vorgelesen?«
Linda verneinte. Und auch an jemanden namens Alison konnte sich keine der beiden entsinnen – das andere Wort, nach dem Pell gesucht hatte.
»Beschreiben Sie mir einen typischen Tag in der Familie.«
Rebecca schien nicht zu wissen, was sie dazu sagen sollte. »Wir sind aufgestanden, haben gefrühstückt... keine Ahnung.«
»Wir waren bloß eine Familie«, sagte Linda achselzuckend. »Wir haben über Dinge geredet, über die Familien nun mal reden. Über das Wetter, über Pläne, über Ausflüge, die wir vorhatten. Geldprobleme. Wer welche Arbeiten erledigen würde. Manchmal hab ich nach dem Frühstück in der Küche gestanden, das Geschirr abgewaschen und einfach nur geweint – weil ich so glücklich war. Ich hatte endlich eine richtige Familie.«
Rebecca pflichtete ihr bei, dass ihr Leben sich nicht sonderlich von dem aller anderen unterschieden habe, wenngleich sie eindeutig nicht so sentimental war wie ihre »Schwester«.
Die Diskussion drehte sich mal um dieses, mal um jenes, erbrachte aber nichts Hilfreiches. Bei Befragungen und Verhören gilt die weithin bekannte Regel, dass Abstraktionen sich hinderlich auf das Gedächtnis auswirken und Konkretisierungen es anregen. »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte Dance nun. »Suchen Sie sich einen bestimmten Tag aus, und erzählen Sie mir davon. Einen Tag, an den Sie sich beide erinnern.«
Aber keiner der Frauen fiel ein herausragendes Datum ein.
Bis Dance vorschlug: »Nehmen Sie einen Feiertag; Thanksgiving oder Weihnachten.«
Linda zuckte die Achseln. »Wie wär’s mit diesem Ostern?«
»Mein erster Feiertag dort. Mein einziger Feiertag. Klar. Der war lustig.«
Linda sagte, sie habe ein opulentes Abendessen zubereitet, aus Nahrungsmitteln, die Sam, Jimmy und Rebecca »aufgetrieben« hatten. Dance entging die Beschönigung nicht; das Trio hatte die Lebensmittel gestohlen.
»Es gab Truthahn«, sagte Linda. »Ich habe ihn den ganzen Tag im Garten geräuchert. Mann, das war klasse.«
Dance hakte nach. »Da waren Sie also, Sie beide und Samantha – sie war die Ruhige, haben Sie gesagt.«
»Die Maus.«
»Und der junge Mann, der mit Pell bei den Croytons gewesen ist«, sagte Kellogg. »Jimmy Newberg. Erzählen Sie uns von ihm.«
»Ja«, sagte Rebecca. »Der war ein komischer kleiner Kerl. Und ebenfalls ein Ausreißer. Aus Seattle, glaube ich.«
»Gut aussehend. Aber er war nicht ganz dicht.« Linda tippte sich an die Stirn.
Rebecca lachte auf. »Er hatte früher wohl zu viel gekifft.«
»Aber er war ein Genie mit den Händen. Holzarbeiten, Elektronik, alles. Und er hat sich total mit Computern ausgekannt und sogar eigene Programme geschrieben. Wenn er uns davon erzählt hat, haben wir alle nur Bahnhof verstanden. Er wollte irgendeine Internetseite ins Leben rufen – vergessen Sie nicht, das war, bevor jeder eine hatte. Ich glaube, er war eigentlich sehr kreativ. Er hat mir leidgetan. Daniel hat ihn nicht besonders gemocht und oft die Geduld mit ihm verloren. Ich schätze, er wollte ihn
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