Die Menschenleserin
Neues.«
»Okay. Machen Sie weiter.« Sie unterbrach die Verbindung und wählte TJs Nummer. »Wo bist du ?«
»Die Betonung verrät mir, dass ich für dich nur zweite Wahl bin.«
»Aber die Antwort lautet?«
»In Monterey, nicht weit von der Innenstadt.«
»Gut.« Dance nannte ihm die Adresse von Eve Brocks Firma und bat ihn, sich mit ihr in zehn Minuten unten auf der Straße zu treffen. Sie würde ihm ein Foto von Susan Pemberton geben und ihn die Bars und Restaurants der näheren Umgebung abklappern lassen. Dann das Einkaufszentrum und den Fisherman’s Wharf. Die Cannery Row auch.
»Du hast mich wirklich lieb, Boss. Bars und Restaurants. Genau der richtige Auftrag für mich.«
Sie bat ihn außerdem, sich mit der Telefongesellschaft in Verbindung zu setzen und in Erfahrung zu bringen, welche Anrufe auf Susans Apparat eingegangen waren. Allerdings glaubte sie nicht, dass Pell der besagte Kunde gewesen war; er mochte Mut haben, aber er würde sich nicht am helllichten Tag mitten hinein nach Monterey wagen. Der potenzielle Auftraggeber könnte jedoch wertvolle Informationen darüber besitzen, wohin Susan beispielsweise nach dem Treffen gegangen war.
Dance fragte Eve nach der Nummer, gab sie an TJ durch und beendete das Telefonat.
»Was steht in den Akten, die gestohlen wurden?«, fragte sie.
»Ach, alles Mögliche über unsere Arbeit. Kunden, Hotels, Lieferanten, Kirchen, Bäckereien, Partyservices, Restaurants, Spirituosenhändler, Floristen, Fotografen, Werbeabteilungen der Betriebe, die uns angeheuert haben... einfach alles...« Die Aufzählung schien sie zu erschöpfen.
Was hatte Pell so viel Sorge bereitet, dass er diese Unterlagen vernichten musste?
»Sind Sie je für William Croyton, seine Familie oder seine Firma tätig gewesen?«
»Für... ach, der Mann, den er ermordet hat... Nein, mit dem hatten wir nie zu tun.«
»Womöglich mit einer Tochtergesellschaft seiner Firma oder einem seiner Lieferanten?«
»Das könnte durchaus sein. Wir arbeiten oft für gewerbliche Kunden.«
»Haben Sie Kopien des Materials?«
»Ein paar Dinge müssten archiviert sein... Steuerunterlagen, annullierte Schecks und dergleichen. Wahrscheinlich auch Rechnungskopien. Aber beim Großteil der Sachen habe ich mich nicht
weiter darum gekümmert. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, jemand könnte sie stehlen. Die Kopien befinden sich bei meinem Steuerberater. Er hat sein Büro in San Jose.«
»Könnten Sie die Unterlagen möglichst vollständig herholen?«
»Da ist so viel...« Es verschlug ihr die Sprache.
»Begrenzen Sie es auf die Zeit vor acht Jahren und früher. Bis zum Mai neunundneunzig.«
In diesem Moment vollführte Dances Verstand wieder einen seiner Sprünge. Könnte Pell sich für etwas interessieren, das die Frau für die Zukunft plante?
»Und all ihre noch ausstehenden Aufträge.«
»Sicher, ich tue, was ich kann.«
Die Frau schien von der Tragödie überwältigt zu sein, wie gelähmt.
Dance musste an Morton Nagles Buch Die Schlafpuppe denken und begriff, dass sie hier ein weiteres von Daniel Pells Opfern vor sich sah.
Ein Gewaltverbrechen ist für mich wie ein Stein, der in einen Teich fällt. Die Kreise der Konsequenzen können sich fast unendlich weit ausbreiten ...
Dance ließ sich für TJ ein Foto von Susan aushändigen und ging nach unten, um ihn zu treffen. Ihr Telefon klingelte.
Im Display blinkte O’Neils Mobilnummer auf.
»Hallo«, sagte sie und war froh über seinen Anruf.
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Leg los.«
Er sprach mit leiser Stimme, und Dance nahm die Nachricht ohne eine einzige Regung entgegen. Sie ließ sich nichts anmerken.
»Ich komme so schnell wie möglich.«
»Wirklich, es ist eine Erlösung«, sagte Juan Millars Mutter unter Tränen zu Kathryn.
Sie stand neben dem grimmig dreinblickenden Michael O’Neil auf dem Korridor des Monterey Bay Hospital und sah zu, wie die Frau sich nach Kräften bemühte, sie zu trösten, anstatt sich das Beileid aussprechen zu lassen.
Winston Kellogg traf ein, ging zu der Familie und brachte seine Anteilnahme zum Ausdruck. Dann gab er O’Neil die Hand und berührte mit der Linken den Oberarm des Detectives, eine Geste zur Betonung der Aufrichtigkeit unter Geschäftsleuten, Politikern und Trauernden. »Es tut mir so leid.«
Sie standen in der Intensivstation vor der Abteilung für Brandwunden. Hinter der Scheibe sahen sie das komplizierte Bett samt der futuristisch anmutenden Ausstattung: Kabel, Ventile, Anzeigen,
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