Die Menschenleserin
mich los.«
»Wir müssen Ihnen Fesseln anlegen, falls Sie sich nicht in den Griff bekommen«, sagte O’Neil. »Verstanden?«
»Ja, ja, ich hab verstanden.«
Kellogg ließ ihn los und half ihm hoch.
Alle Augen waren auf Dance gerichtet. Aber sie würde die Sache nicht weiterverfolgen. »Alles in Ordnung. Kein Problem.«
Julio starrte ihr ins Gesicht. »O doch, es gibt ein Problem. Es gibt ein großes Problem.«
Er stürmte davon. »Verzeihen Sie«, sagte Rosa Millar unter Tränen.
Dance beruhigte sie. »Wohnt er bei Ihnen zu Hause?«
»Nein, er hat in der Nähe ein Apartment.«
»Sorgen Sie dafür, dass er heute Nacht bei Ihnen bleibt. Sagen Sie, Sie bräuchten seine Hilfe. Für die Bestattung, um Juans Angelegenheiten zu regeln, was auch immer Ihnen einfällt. Er trauert genauso sehr wie alle anderen. Er weiß nur nicht, wohin mit seinem Leid.«
Die Mutter war zu der Bahre gegangen, auf der ihr Sohn mittlerweile lag. Sie murmelte etwas vor sich hin. Edie Dance ging erneut zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr, berührte ihren Arm. Eine vertraute Geste zwischen zwei Frauen, die einander noch bis vor wenigen Tagen völlig fremd gewesen waren.
Nach einem Moment kehrte Edie zu ihrer Tochter zurück. »Sollen die Kinder heute bei uns schlafen?«
Dance zögerte. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, bei Wes und Maggie zu sein. Doch wenn sie das Ergebnis von Pells Bösartigkeit betrachtete, das dort unter dem grünen Laken lag, diesem widerlichen Laken, kam sie sich besudelt vor. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder diesem Grauen ausgesetzt sein würden, nicht einmal indirekt, und sie wusste, dass die beiden ihr auf den ersten Blick ansehen würden, was ihr so zu schaffen machte. Sie dachte an ihre Bemühungen, Wes von der Welt der Gewalt fernzuhalten.
»Danke. So ist es vermutlich am besten.«
Dance verabschiedete sich von den Millars. »Können wir etwas für Sie tun? Irgendetwas?«
»Nein, nein«, sagte der Vater, und man konnte ihm anhören, dass die Frage ihn verblüffte. Dann fügte er leise hinzu: »Was gibt es da schon noch zu tun?«
... Dreißig
Die Stadt Vallejo Springs in Napa, Kalifornien, ist in mancherlei Hinsicht berühmt.
Es gibt dort ein Museum, in dem zahlreiche Arbeiten von Eadweard Muybridge ausgestellt sind, dem Fotografen aus dem neunzehnten Jahrhundert, der als Erfinder der bewegten Bilder gilt. (Weitaus interessanter als seine Kunst ist allerdings die Tatsache, dass er den Liebhaber seiner Frau ermordet und vor Gericht ein entsprechendes Geständnis abgelegt hat, aber dennoch ungeschoren davongekommen ist.)
Auch die Weinberge der Region besitzen große Anziehungskraft. Auf ihnen wächst ein ausgesprochen edler Vertreter der Merlot-Rebe – eine der drei wichtigsten Sorten bei der Herstellung von Rotwein. Und der Merlot ist beileibe keine Allerweltstraube, ganz im Gegensatz zu der Behauptung in einem erfolgreichen Kinofilm aus jüngster Zeit. Man möge nur an den Petrus denken, einen Wein aus der Gemeinde Pomerol im Bordelais, der fast ausschließlich aus Merlot gewonnen wird und zu den durchgängig teuersten Weinen der Welt zählt.
Morton Nagle jedoch überquerte in diesem Moment die Stadtgrenze, um die dritte Attraktion von Vallejo Springs aufzusuchen, mochte sie auch nur sehr wenigen Leuten bekannt sein.
Theresa Croyton, die Schlafpuppe , wohnte mit ihrer Tante und ihrem Onkel hier.
Nagle hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er war einen Monat lang verschlungenen Pfaden gefolgt und bei einem Reporter in Sonoma gelandet. Der hatte ihm den Namen eines Anwalts verraten, der bei mehreren Gelegenheiten für die Tante des Mädchens tätig gewesen war. Der Jurist hatte sich anfangs gesträubt, Nagle behilflich zu sein, aber immerhin die Meinung geäußert, die Frau sei arrogant und unfreundlich – und schäbig. Sie hatte ihn wegen einer Zahlung bedrängt. Sobald er überzeugt gewesen war, mit Nagle einen renommierten Autor vor sich zu haben, hatte er den Wohnort und den neuen Namen der Familie preisgegeben – unter der Voraussetzung, dass er anonym bleiben würde. (»Vertrauliche Quelle« ist in Wahrheit bloß ein Synonym für rückgratlos.)
Nagle war bereits mehrfach in Vallejo Springs gewesen und hatte sich mit der Tante der Schlafpuppe getroffen, um ein Interview mit dem Mädchen zu bekommen (der Onkel besaß dabei so gut wie kein Mitspracherecht, hatte Nagle gelernt). Die Frau zögerte noch, aber er glaubte, dass sie letztlich nachgeben würde.
Nun parkte er in der malerischen
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