Die Menschenleserin
Stadt wieder einmal in der Nähe des geräumigen Hauses und wartete auf eine Gelegenheit, mit der Frau unter vier Augen zu sprechen. Natürlich hätte er anrufen können. Aber Nagle vertrat die Ansicht, dass Telefonate – ähnlich wie E-Mails – kein besonders taugliches Kommunikationsmittel waren. Am Telefon sind die Gesprächspartner stets gleichgestellt. Man hat viel weniger Kontrolle und Überzeugungskraft als bei einer persönlichen Unterredung.
Außerdem kann der andere einfach auflegen.
Er musste vorsichtig sein. Ihm war aufgefallen, dass am Haus der Bollings – so der neue Name der Familie – in regelmäßigen Abständen ein Streifenwagen vorbeifuhr. Für sich betrachtet, hatte das nichts zu bedeuten – Vallejo Springs war eine wohlhabende Stadt und besaß eine große, gut ausgestattete Polizeitruppe -, aber Nagle hatte bemerkt, dass die Wagen vor dem Haus etwas langsamer zu werden schienen.
Ihm war zudem nicht entgangen, dass die Zahl der Polizeifahrzeuge seit letzter Woche deutlich zugenommen hatte, was seinen schon länger gehegten Verdacht bestätigte: dass Theresa ein Liebling der Stadt war. Die Cops würden wie die Schießhunde darüber wachen, dass dem Mädchen nichts zustieß. Falls Nagle sich nicht vorsah, würden sie ihn aus der Stadt zerren und dort in den Staub werfen, wie einen unwillkommenen Revolverhelden in einem schlechten Western.
Er lehnte sich zurück, behielt den Hauseingang im Auge und dachte über den einleitenden Absatz seines Buches nach.
Carmel-by-the-Sea ist ein Ort der Widersprüche, ein Mekka für Touristen, das Juwel an der Küste Zentralkaliforniens – doch unter der unverdorbenen und anheimelnden Oberfläche liegt die abgeschottete Welt der Reichen und Skrupellosen aus San Francisco, Silicon Valley und Hollywood ...
Hm. Daran muss ich wohl noch arbeiten.
Nagle kicherte.
Und dann sah er den Geländewagen, einen weißen Escalade, der aus der Auffahrt der Bollings kam. Am Steuer saß Mary, die Tante des Mädchens. Sie war allein. Gut. Falls Theresa bei ihr gewesen wäre, hätte er sich ihr niemals nähern können.
Nagle ließ seinen Wagen an, einen Buick, der ungefähr so viel wert war wie das Getriebe des Escalade, und folgte ihr. Theresas Tante hielt an einer Tankstelle und füllte Superbenzin ein. Dabei plauderte sie mit einer Frau an der Nachbarzapfsäule, die bei einem roten Jaguar S stand. Die Tante sah mitgenommen aus. Ihr graues Haar war nicht gekämmt, und sie wirkte müde. Sogar vom Rand des Parkplatzes aus konnte Nagle die dunklen Ringe um ihre Augen erkennen.
Dann fuhr sie weiter, durch die hübsche, unverkennbar kalifornische Innenstadt, auf einer Straße, die mit Pflanzen, Blumen und eigenartigen Skulpturen geschmückt war. Zu beiden Seiten reihten sich Cafés, vermeintlich schlichte Restaurants, ein Gartencenter, eine unabhängige Buchhandlung, eine Yogaschule und kleine Läden, in denen es Wein, Glaswaren, Haustierzubehör und Freizeitkleidung zu kaufen gab.
Nach einigen hundert Metern folgte das Einkaufszentrum, in dem die Einheimischen ihre Besorgungen erledigten, vor allem in dem Lebensmittelladen und dem großen Drogeriemarkt. Mary Bolling stellte den Wagen ab und ging in das Lebensmittelgeschäft. Nagle parkte in der Nähe des Escalade. Er streckte sich und sehnte sich nach einer Zigarette, obwohl er schon seit zwanzig Jahren Nichtraucher war.
Dann führte er das endlose Zwiegespräch mit sich selbst fort. Bis jetzt war er nicht zu weit gegangen. Hatte gegen keine Regeln verstoßen.
Er konnte immer noch nach Hause fahren und hätte sich moralisch nichts vorzuwerfen.
Aber sollte er das?
Er war sich nicht sicher.
Morton Nagle glaubte, sein Leben diene einem Ziel, nämlich der Bloßstellung des Bösen. Es war eine wichtige Mission, eine, die er leidenschaftlich verfolgte. Eine noble Mission.
Aber es ging darum, das Böse zu enthüllen und es den Menschen zu überlassen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Nicht darum, es eigenhändig zu bekämpfen. Denn sobald man diese Linie erst einmal überschritten und angefangen hatte, sich aktiv um Gerechtigkeit zu bemühen, statt sie lediglich zu beleuchten, gab es Risiken. Anders als der Polizei schrieb ihm die Verfassung nicht vor, was er tun und nicht tun durfte. Daraus ergab sich ein gewisses Potenzial für Missbrauch.
Indem er Theresa Croyton bat, bei der Suche nach einem Mörder behilflich zu sein, setzte er sie und ihre Adoptiveltern – ebenso sich und seine Familie – einigen sehr realen
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