Die Menschenleserin
Sie?«
Er sagte nichts.
»Sie werden es mir nicht verraten, oder?«, hakte Dance nach.
»Ich fürchte, das kann ich nicht.«
Sie warf einen Blick auf die Kennung des Anrufers, aber Nagle hatte sein Mobiltelefon benutzt, keinen Hotelapparat oder Münzfernsprecher.
»Wird sie ihre Meinung ändern?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hätten sie sehen sollen. Sie hat Lebensmittel im Wert von hundert Dollar einfach stehen gelassen und ist weggelaufen.«
Dance war enttäuscht. Daniel Pell war ihr ein Rätsel, und sie wollte unbedingt so viel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen. Letztes Jahr, als sie Lincoln Rhyme bei dessen Fall in New York unterstützt hatte, war ihr aufgefallen, wie begierig der Kriminalist auch noch das kleinste Detail der sichergestellten Spuren untersuchte. Kathryn war genauso – allerdings im Hinblick auf die an einem Verbrechen beteiligten Personen.
Doch es gibt zweierlei Arten von Besessenheit: Man kann die Aussage eines Verdächtigen von allen Seiten mehrmals durchleuchten, und man kann auf dem Heimweg gewissenhaft vermeiden, auf einen Riss im Asphalt zu treten. Man muss unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.
Dance beschloss, dass sie notgedrungen ohne die Schlafpuppe würden zurechtkommen müssen.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Ich habe es wirklich versucht.«
Danach sprach Dance noch einmal mit Rey Carraneo. Immer noch kein Glück bei den Motels und keine Meldung, dass in einem der Jachthäfen ein Boot verschwunden wäre.
Kaum hatte sie aufgelegt, rief TJ an. Die Zulassungsstelle hatte geantwortet. Der Wagen, den Pell zum Zeitpunkt der Croyton-Morde gefahren hatte, war schon seit Jahren nicht mehr angemeldet worden, was vermutlich bedeutete, dass man ihn verschrottet hatte. Falls Pell am Mordabend etwas Wertvolles bei den Croytons gestohlen hatte, war es demnach höchstwahrscheinlich verschwunden oder eingeschmolzen worden. TJ hatte außerdem die Inventarliste überprüft, die nach der Sicherstellung des Fahrzeugs angelegt worden war. Sie umfasste nur wenige Gegenstände, und nichts deutete darauf hin, dass etwas davon aus dem Haus des Geschäftsmanns stammte.
Dann teilte Dance ihrem Kollegen mit, dass Juan Millar gestorben war. TJ brachte kein Wort über die Lippen. Ein Zeichen für seine tiefe Bestürzung.
Wenig später klingelte ihr Telefon erneut. Michael O’Neil meldete sich mit seinem typischen: »Hallo, ich bin’s.« Er klang erschöpft und traurig. Millars Tod machte ihm schwer zu schaffen.
»Was auch immer auf dem Pier beim Fundort von Susan Pembertons Leiche gewesen sein mag, ist weg – falls es dort überhaupt etwas zu finden gegeben hat. Ich habe gerade mit Rey gesprochen. Er sagt, bislang habe niemand den Diebstahl eines Bootes gemeldet. Vielleicht habe ich mich geirrt. Hat dein Freund etwas bei der Straße gefunden?«
Sie registrierte die verfängliche Bezeichnung »Freund« und erwiderte: »Er hat nicht angerufen. Ich nehme an, er ist nicht zufällig auf Pells Adressbuch oder Zimmerschlüssel gestoßen.«
»Das Klebeband lässt sich übrigens nicht zurückverfolgen, und das Pfefferspray wird von zehntausend Geschäften und Versandhändlern geführt.«
Sie berichtete O’Neil, dass Nagles Versuch, mit Theresa in Kontakt zu treten, fehlgeschlagen war.
»Sie will nicht mit uns reden?«
»Ihre Tante will es nicht. Und zwar unter keinen Umständen. Ich weiß ohnehin nicht, ob es etwas gebracht hätte.«
»Es war eine gute Idee«, sagte O’Neil. »Sie ist das einzige Bindeglied zu Pell und zu jenem Abend.«
»Ohne sie müssen wir uns eben mehr anstrengen«, sagte Dance.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete er.
Stoisch ...
Einige Minuten nach dem Telefonat kam Winston Kellogg zurück.
»Sind Sie an der Strandstraße auf irgendetwas Verdächtiges gestoßen?«, fragte sie.
»Nein. Wir haben dort und am Fundort eine Stunde lang alles abgesucht. Keine Fuß- oder Reifenspuren, keine verlorenen Gegenstände. Vielleicht hatte Michael recht und Pell ist tatsächlich mit einem Boot von dem Pier geflohen.«
Dance verkniff sich ein Lachen. Die großspurigen Kerle hatten soeben beide eingeräumt, der jeweils andere könne richtiggelegen haben – obwohl sie bezweifelte, dass sie es sich auch gegenseitig eingestehen würden.
Sie erzählte ihm von den entwendeten Akten aus Susan Pembertons Büro und Nagles fehlgeschlagenem Versuch, ein Gespräch mit Theresa Croyton zu arrangieren. Dann fügte sie hinzu, dass TJ sich gegenwärtig auf
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