Die Menschenleserin
ich auch gar nicht«, versicherte die Maus schnell. »Aber für ihn dürfte das Wort ›Hauptgewinn‹ einfach etwas anderes bedeutet haben als für uns. Er beging nicht gern Straftaten, die zu offensichtlich waren. Wir sind in Häuser eingebrochen...«
»Na ja, kaum«, korrigierte Linda.
Rebecca seufzte. »Mensch... wir sind doch ständig irgendwo eingestiegen, Linda. Und lange bevor ich mich euch angeschlossen habe, seid ihr schon eifrig bei der Sache gewesen.«
»Das wurde übertrieben dargestellt.«
Samantha äußerte sich zu keiner der beiden Frauen und wirkte verunsichert, als fürchte sie, man würde sie auffordern, abermals als Schiedsrichterin zu fungieren. »Er hat gesagt, falls wir etwas zu Illegales täten, würde die Presse darüber berichten, und dann säße uns die Polizei im Nacken«, fuhr sie fort. »Von Banken und Läden, in denen man seine Schecks einlösen kann, haben wir uns immer ferngehalten. Zu viele Sicherheitsvorkehrungen, zu riskant.« Sie zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei, bei all den Diebstählen ging es nie ums Geld.«
»Nicht?«, fragte Dance.
»Nein. Mit regulären Jobs hätten wir genauso viel verdienen können. Aber das fand Daniel nicht aufregend genug. Es gefiel ihm, Leute dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollten. Das war sein Kick.«
»Bei dir klingt das so, als hätten wir nichts anderes gemacht«, sagte Linda.
»So habe ich es nicht gemeint...«
»Wir waren keine Verbrecherbande.«
Rebecca ignorierte Linda. »Ich glaube, er hatte es definitiv auf das Geld abgesehen.«
Samantha lächelte unschlüssig. »Nun ja, es kam mir jedenfalls so vor, als ginge es ihm eher darum, andere zu manipulieren. Er hat nicht viel Geld gebraucht. Es war ihm nicht sehr wichtig.«
»Für seinen Berggipfel musste er ja schließlich irgendwie bezahlen«, wandte Rebecca ein.
»Das mag sein. Ich könnte mich durchaus irren.«
Dance spürte, dass dies ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Pells Charakter war. Sie stellte daher weitere Fragen zu den kriminellen Aktivitäten und hoffte, damit vielleicht einige besondere Erinnerungen auszulösen.
»Daniel war gut, das muss man ihm lassen«, sagte Samantha. »Obwohl ich wusste, dass unsere Taten falsch waren, konnte ich nicht anders, als ihn zu bewundern. Er wusste immer, wo man am besten fremde Taschen leeren oder in Häuser einbrechen konnte. Wie die Überwachung in Kaufhäusern funktionierte, welche Designerlabel mit Sicherheitsetiketten ausgestattet waren und welche nicht, welcher Angestellte eine Reklamation ohne Kassenbon vornehmen würde.«
»Alle stellen ihn als einen so schrecklichen Verbrecher hin«, sagte Linda. »Aber in Wahrheit war es für ihn bloß ein Spiel . Wir haben uns zum Beispiel verkleidet. Wisst ihr noch? Perücken, andere Klamotten, falsche Brillen. Es war alles nur harmloser Spaß.«
Rebecca und Samantha erzählten noch etwas mehr über die Diebstähle. Lauter kleinere Vergehen, die ihnen einige hundert Dollar pro Woche eingebracht hatten. Dance war geneigt, Samanthas Theorie zuzustimmen, dass es Pell mehr um Macht als um Geld gegangen war, wenn er die Familie für diese Missionen ausgesandt hatte.
»Was ist mit der Verbindung zu Charles Manson?«
»Oh«, sagte Samantha. »Es gab keine Verbindung zu Manson.«
Dance war überrascht. »In den Zeitungen stand aber etwas anderes.«
»Tja, Sie kennen die Presse doch.« Samantha widersprach wie üblich nur ungern, aber sie war sich in diesem Punkt vollkommen sicher. »Er hat zwar die ganzen Bücher gelesen und sich Notizen gemacht, aber er hielt Manson für ein eher abschreckendes Beispiel.«
Doch Linda schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wozu hatte er sonst all diese Bücher und Artikel über ihn?«
Dance wusste noch, dass gegen Linda eine längere Haftstrafe verhängt worden war, weil sie am Abend der Croyton-Morde einen Teil des belastenden Manson-Materials vernichtet hatte. Die junge Frau schien nun besorgt zu sein, ihre Heldentat könne sich als völlig sinnlos erweisen.
»Die einzigen Parallelen waren, dass er mit mehreren Frauen zusammengelebt und uns dazu gebracht hat, Straftaten für ihn zu begehen. Manson hatte sich nicht selbst unter Kontrolle. Er hat behauptet, er sei Jesus, er hat sich ein Hakenkreuz in die Stirn geritzt, er hat geglaubt, er habe übersinnliche Kräfte, er hat über Politik und Rassenunruhen schwadroniert. Er war bloß ein weiteres Beispiel dafür, wie jemand von seinen Emotionen beherrscht werden
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