Die Menschenleserin
»Zwei-oder dreimal die Woche. Vor und während der Highschoolzeit... Möchtet ihr wissen, was er mir zum Schulabschluss geschenkt hat?«
»Rebecca... es tut mir so leid«, sagte Sam. »Du hast nie etwas erzählt.«
»Du hast den Tag in dem Lieferwagen erwähnt, als wir uns getroffen haben.« Sie sprach zu Linda, die keine Miene verzog. »Ja, wir waren drei Stunden da drin. Du hast gedacht, wir würden vögeln. Aber wir haben nur geredet. Er hat mich getröstet, weil ich so ausgeflippt war. Wie schon so oft – ich hatte einen Mann kennengelernt, der mich wollte und den ich wollte, aber es ging nicht. Ich konnte es nicht ertragen, dass er mich berührt. Eine sexy Hülle, aber ohne jede Leidenschaft im Innern. Doch Daniel? Er wusste genau, was er sagen musste, damit ich mich gut fühlte.
Und nun seht mich an – ich bin dreiunddreißig und in diesem Jahr mit vier verschiedenen Männern zusammen gewesen. Und wisst ihr was? Ich kann mich an den Namen des zweiten nicht mehr erinnern. Ach, und noch etwas – jeder von denen war mindestens fünfzehn Jahre älter als ich... Nein, ich bin kein Stück besser als ihr beide. Und alles, was ich zu euch gesagt habe, gilt doppelt so sehr für mich selbst.
Aber komm schon, Linda, erkenne ihn als das, was er ist und was er uns angetan hat. Etwas Schlimmeres als Daniel Pell lässt sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ja, es war dermaßen übel... Tut mir leid, ich bin betrunken, und das hier hat mehr Mist aufgewühlt, als ich erwartet hätte.«
Linda blieb zunächst stumm. Sam sah ihr an, dass sie mit sich rang. Nach einem Moment sagte sie: »Dein Missgeschick tut mir leid. Ich werde für dich beten. Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich gehe zu Bett.«
Sie nahm ihre Bibel und ging in ihr Zimmer.
»Das ist nicht besonders gut gelaufen«, sagte Rebecca. »Tut mir leid, Maus.« Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und seufzte. »Schon komisch, wenn man versucht, der Vergangenheit zu entfliehen. Man ist wie ein Hund an der Leine. Ganz egal, wie weit er rennen möchte, er kommt einfach nicht weg.«
... Achtunddreißig
Dance und Kellogg saßen in ihrem Büro in der CBI-Zentrale, wo sie Overby, der zur Abwechslung mal Überstunden machte, von den Ereignissen beim Haus von James Reynolds berichtet hatten. Ferner hatten TJ und Carraneo gemeldet, dass es keine neuen Entwicklungen gab. Nun war es kurz nach dreiundzwanzig Uhr.
Sie schaltete den Computer aus. »Okay, das war’s«, sagte sie.
»Schluss für heute.«
»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund.«
Als sie den dunklen Korridor hinuntergingen, sagte Kellogg:
»Vorhin habe ich so bei mir gedacht, die sind wirklich eine Familie.«
»Im Hotel?«
»Ja. Die drei Frauen. Sie sind nicht miteinander verwandt. Sie mögen sich nicht mal besonders. Aber sie sind eine Familie.«
Sein Tonfall ließ eine gewisse Wehmut erkennen. Die Interaktion der drei Frauen, die Dance nüchtern registriert und aufschlussreich, sogar amüsant gefunden hatte, hatte Kellogg irgendwie berührt. Sie kannte ihn nicht gut genug, um ihn nach dem Grund zu fragen oder diesen aus seinem Verhalten abzulesen. Ihr fiel auf, dass seine Schultern sich ein winziges Stück hoben und er mit zwei Fingernägeln seiner linken Hand schnipste, was auf allgemeinen Stress hindeutete.
»Holen Sie jetzt die Kinder?«, fragte er.
»Nein, die übernachten heute bei ihren Großeltern.«
»Die beiden sind großartig, wirklich.«
»Und Sie haben nie daran gedacht, Kinder zu bekommen?«
»Eigentlich nicht.« Seine Stimme wurde leiser. »Wir haben beide gearbeitet. Ich war viel unterwegs. Sie wissen schon, berufstätige Ehepaare.«
Bei Verhören und der kinesischen Analyse ist der Inhalt des Gesagten normalerweise weniger wichtig als der Tonfall – die »verbale Qualität« -, in dem die Worte ausgesprochen werden. Dance hatte schon viele Leute sagen gehört, sie hätten keine Kinder, und aus dem Klang der Worte entnommen, ob diese Tatsache für die jeweilige Person belanglos, eine bequeme Wahl oder ein bleibender Schmerz gewesen war.
Hinter Kelloggs Aussage spürte sie etwas Wichtiges. Sie nahm nun weitere Stressindikatoren wahr, kleine Ausbrüche der Körpersprache. Vielleicht ein physisches Problem bei ihm oder seiner Frau. Womöglich hatte das Thema für die beiden eine große Rolle gespielt und letztlich zu ihrer Trennung geführt.
»Wes hat im Hinblick auf mich so seine Zweifel.«
»Ach, er reagiert bloß empfindlich darauf, dass Mom andere Männer
Weitere Kostenlose Bücher