Die Menschenleserin
daran? Mein Gott, sieh sich doch einer uns zerbrechliche Geschöpfe an! Wir müssen auf jemanden angewiesen sein. Warum also sollen wir diese Notwendigkeit nicht mit einem Menschen erleben, dessen Gesellschaft wir genießen, an dessen Körper wir uns nachts gern anschmiegen dürfen und der uns zum Lachen bringt?... Wieso es nicht einfach darauf ankommen lassen und das Beste hoffen?
Ach, Bill... Sie dachte an ihren verstorbenen Mann. Bill …
Ferne Erinnerungen kamen auf.
Aber auch frische, von nahezu gleicher Stärke.
...hinterher ... Was meinst du?
...Donnerstag
… Neununddreißig
Wieder hinter dem Haus.
In ihrem Auenland, ihrem Narnia, ihrem Hogwarts, ihrem geheimen Garten.
Die siebzehnjährige Theresa Croyton Bolling saß auf der grauen Hollywoodschaukel aus Teakholz, las in einem schmalen Buch und blätterte langsam die Seiten um. Es war ein herrlicher Tag. Die Luft roch so süß wie die Parfumabteilung bei Macy’s, und die nahen Hügel von Napa waren so friedlich wie immer unter ihrer Decke aus Klee und Gras, grünen Weinstöcken, Kiefern und knorrigen Zypressen.
Theresa dachte in lyrischen Begriffen, weil sie gerade eine entsprechende Lektüre vor sich hatte – wunderschön komponierte, tief empfundene, einsichtige... und total langweilige Gedichte.
Sie seufzte laut und wünschte, ihre Tante wäre in der Nähe, um es zu hören. Das Taschenbuch hing schlaff in ihrer Hand, und ihr Blick schweifte noch einmal durch den Garten. Sie schien an diesem Ort ihr halbes Leben verbracht zu haben. Manchmal nannte sie ihn das grüne Gefängnis.
Aber oft genug liebte sie dieses Fleckchen Erde. Es war schön hier, genau richtig, um zu lesen oder Gitarre zu üben. (Theresa wollte entweder Kinderärztin oder Reiseschriftstellerin oder, in der besten aller Welten, Sharon Isbin sein, die berühmte klassische Gitarristin.)
Sie war gegenwärtig hier und nicht in der Schule, weil sie, ihre Tante und ihr Onkel eine nicht geplante Reise unternehmen würden.
Oh, Tare, das wird Spaß machen. Roger hat etwas in Manhattan zu erledigen, eine Rede oder Recherchen, keine Ahnung. Ich hab nicht richtig zugehört. Er hat in einer Tour geplappert. Du kennst ja deinen Onkel. Aber ist es nicht großartig, einfach aus einer Laune heraus auf Reisen zu gehen? Ein Abenteuer.
Was der Grund war, aus dem ihre Tante sie am Montag um zehn Uhr vormittags aus der Schule geholt hatte. Nur dass sie noch nicht aufgebrochen waren, was ihr ein wenig merkwürdig vorkam.
Die Erklärung ihrer Tante lautete, es gebe »logische Schwierigkeiten. Weißt du, was ich meine?«
Theresa war die Achtbeste ihres Jahrgangs aus 257 Schülern der Vallejo Springs Highschool. Sie sagte: »Ja, weiß ich. Du meinst ›logistisch‹.«
Aber was das Mädchen nicht verstand, war Folgendes: Da sie immer noch nicht in irgendeinem dämlichen Flugzeug nach New York saßen, wieso konnte sie nicht weiter zur Schule gehen, bis die »Schwierigkeiten« gelöst waren?
»Außerdem ist Studienwoche«, hatte ihre Tante gesagt. »Also lerne.«
Was nicht »lernen« bedeutete, sondern »kein Fernsehen«.
Und keine Treffen mit Sunny, Travis oder Kaitlin.
Und es hieß, dass sie nicht zu der großen Wohltätigkeitsveranstaltung nach Tiburon fahren würden, obwohl die Firma ihres Onkels den Kampf gegen das Analphabetentum finanziell unterstützte. (Theresa hatte sich extra ein neues Kleid gekauft.)
Natürlich war das kompletter Schwachsinn. Es gab keine Reise nach New York, und es gab auch keine Schwierigkeiten, ob nun logistische, logische oder andere. Das alles war bloß ein Vorwand, um sie in dem grünen Gefängnis zu behalten.
Und warum die Lügen?
Weil der Mann, der ihre Eltern sowie ihren Bruder und ihre Schwester ermordet hatte, aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Was ihre Tante allen Ernstes vor Theresa geheim halten zu können glaubte.
Also bitte... Die Nachricht stand ganz oben auf der Startseite von Yahoo. Und jeder aus Kalifornien unterhielt sich darüber bei MySpace und Facebook. (Es war ihrer Tante irgendwie gelungen, den drahtlosen Router der Familie zu deaktivieren, woraufhin Theresa sich einfach in das ungeschützte Funknetzwerk eines Nachbarn eingeklinkt hatte.)
Sie warf das Buch neben sich auf die Bank und schaukelte vor und zurück, während sie das Haarband abnahm und ihren Pferdeschwanz neu ordnete.
Theresa war durchaus dankbar für das, was ihre Tante im Laufe der Jahre für sie getan hatte, und rechnete es ihr wirklich hoch an. Nach den furchtbaren
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