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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Daniel Pell ist ein Ungeheuer. Denk darüber nach. Denk darüber nach, was er uns angetan hat...« Rebeccas Augen funkelten, ihr Unterkiefer bebte. »Er hat dich angeschaut und ein Mädchen gesehen, dem von seinen Eltern nie auch nur der geringste Freiraum zugestanden worden war. Und was macht er? Er erzählt dir, was für eine tolle, eigenständige Persönlichkeit du bist und wie sehr du unterdrückt wirst. Und dann überträgt er dir den Haushalt. Macht dich zur Mommy. Er gibt dir Befugnisse, wie du sie noch nie gehabt hast. Und damit hat er dich am Haken.«
    Lindas Augen schimmerten feucht. »So war das nicht.«
    »Du hast recht. Es war schlimmer . Denn sieh nur, was passiert ist. Die Familie zerbricht, wir kommen ins Gefängnis, und wo landest du am Ende? Genau da, wo du angefangen hast. Wieder mit einer dominierenden männlichen Figur – nur diesmal heißt der Daddy Gott. Falls du geglaubt hast, du hättest zu deinem richtigen Vater nicht Nein sagen können, schau dir nur mal deinen neuen an.«
    »Sag das nicht«, warf Sam ein. »Sie...«
    Rebecca wandte sich ihr zu. »Und du . Genau wie früher. Linda und ich kriegen uns in die Haare, und du spielst die kleine Miss Vereinte Nationen, damit sich bloß keiner aufregt und es ja keinen Streit gibt. Warum? Weil dir etwas an uns liegt , mein Schatz? Oder fürchtest du nicht eher, wir könnten uns selbst zerstören und du wärst dann noch einsamer, als du ohnehin schon bist?«
    »Du musst nicht so sein«, murmelte Sam.
    »Oh, ganz im Gegenteil, glaube ich. Werfen wir doch mal einen Blick auf deine Geschichte, Maus. Deine Eltern haben nicht gewusst, dass du existierst. ›Mach, was du willst, Sammy. Mommy und Daddy sind zu beschäftigt mit Greenpeace oder der Frauenbewegung oder der ehrenamtlichen Arbeit für die Seelsorge, um dich abends zu Bett zu bringen.‹ Und was macht Daniel für dich? Er ist auf einmal der fürsorgliche Elternteil, den du niemals hattest. Er passt auf dich auf, sagt dir, was du tun sollst, wann du deine Zähne putzen musst, wann die Küche neu gestrichen wird, wann du dich im Bett auf allen vieren hinzuknien hast... und du glaubst, es bedeutet, dass er dich liebt. Tja, weißt du was? Auch du hängst am Haken.
    Und nun? Du bist wieder ganz am Anfang, genau wie Linda. Du hast für deine Eltern nicht existiert, und jetzt existierst du für niemanden mehr. Weil du nicht mehr Samantha McCoy, sondern jemand anders geworden bist.«
    »Hör auf!« Sam weinte bitterlich. Die harten Worte, die sich auf eine harte Wahrheit gründeten, trafen tief. Auch sie hätte etwas sagen können – Rebeccas Selbstsucht, ihre an Grausamkeit grenzende Taktlosigkeit -, aber sie blieb stumm. Sie konnte einfach nicht schroff sein, nicht mal, um sich zu verteidigen.
    Maus ...
    Doch Linda war längst nicht so zurückhaltend. »Und was gibt dir das Recht, den Mund aufzumachen? Du warst nur irgendein dahergelaufenes Flittchen, das sich wie eine große Künstlerin vorgekommen ist.« Lindas Stimme zitterte vor Zorn, und ihr liefen Tränen über das Gesicht. »Sicher, Sam und ich hatten ein paar Probleme, aber wir waren füreinander da. Du warst bloß eine Hure. Und jetzt maßt du dir ein Urteil über uns an. Du warst kein Stück besser!«
    Rebecca lehnte sich mit reglosem Antlitz zurück. Sam konnte fast mit ansehen, wie ihre Wut schwand. Rebecca senkte den Kopf und sagte leise: »Du hast recht, Linda. Du hast absolut recht. Ich bin kein bisschen besser. Auch ich bin darauf hereingefallen. Mit mir hat er das Gleiche gemacht.«
    »Du?«, rief Linda. »Du hast in keinerlei Verbindung zu Daniel gestanden! Du warst nur zum Ficken da.«
    »Genau«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, einem der traurigsten, die Samantha McCoy je gesehen hatte.
    »Wie meinst du das, Rebecca?«, fragte Sam.
    Ein Schluck Wein. »Na, wie soll er mich schon an den Haken bekommen haben?« Noch mehr Wein. »Ich habe euch nie erzählt, dass ich vor Daniel drei Jahre mit niemandem geschlafen hatte.«
    »Du?«
    »Komisch, was? Ausgerechnet ich. Die Femme fatale von Zentralkalifornien... Die Wahrheit sah ganz anders aus. Was Daniel Pell für mich getan hat? Dank ihm habe ich mich in meinem Körper wieder wohlgefühlt. Er hat mir beigebracht, dass Sex etwas Gutes ist, nichts Schmutziges.« Sie stellte das Glas ab. »Sex war plötzlich nicht mehr etwas, das passiert ist, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam.«
    »Oh«, flüsterte Sam.
    Linda sagte nichts.
    Rebecca trank den letzten Schluck Wein.

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