Die Menschenleserin
Zeitspanne, die sie einander kannten.
»Ich glaube...«, flüsterte er.
»Es ist in Ordnung.«
»Ich...«
Sie lächelte und küsste unbeschwert alle weiteren Worte weg.
Er lehnte sich zurück und drückte ihre Hand. Sie schmiegte sich an ihn und spürte, wie ihr Herz wieder langsamer schlug, während sie bei sich ein seltsames Gleichgewicht feststellte: die perfekte Mischung aus Vorbehalt und Erleichterung. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. Dance musste daran denken, dass sie schon immer am liebsten an Regentagen Sex gehabt hatte.
»Eine Sache noch«, sagte er.
Sie sah ihn an.
»Der Fall wird nicht ewig dauern«, fuhr Kellogg fort.
Sein Wort in Gottes Ohr …
»Vielleicht möchtest du ja hinterher mit mir ausgehen. Was meinst du?«
»›Hinterher‹ klingt gut. Wirklich gut.«
Eine halbe Stunde später parkte Dance vor ihrem Haus.
Dann folgte das Übliche: eine Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen, ein Glas Pinot Grigio, zwei Stücke kaltes Steak vom Vorabend und eine Handvoll gemischter Nüsse zum Klang der Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Danach wurden die Hunde gefüttert und kurz in den Garten gelassen. Die Glock landete in der Kassette. Wenn die Kinder nicht im Haus waren, blieb der Deckel zwar offen, aber die Waffe wurde trotzdem im Innern verstaut. Kathryn hatte sich zu sehr daran gewöhnt, automatisch zu dieser Stelle zu greifen, auch wenn sie mitten aus dem Tiefschlaf erwachte. Zuletzt schaltete sie die Alarmanlage ein.
Sie schob das Schlafzimmerfenster bis zum Sperrriegel hoch – ungefähr fünfzehn Zentimeter -, um die kühle frische Nachtluft hereinzulassen. Dann eine Dusche, ein sauberes T-Shirt und Shorts. Sie legte sich ins Bett und schützte sich durch eine dicke Daunensteppdecke vor der verrückten Welt.
Und dachte: Herrje, Mädchen, Knutschen im Auto – mit einer durchgehenden Vordersitzbank, wie geschaffen für ein Stündchen mit dem Mann der Wahl. Sie erinnerte sich an Pfefferminz, an seine Hände, die Haartolle, das fehlende Rasierwasser.
Sie hörte auch die Stimme ihres Sohnes und sah dessen Augen vom Mittag. Argwöhnisch, eifersüchtig. Dance fiel ein, was Linda gesagt hatte.
Der Gedanke, man könne aus der eigenen Familie verbannt werden, hat etwas ungeheuer Erschreckendes an sich ...
Was letztlich Wes’ Befürchtung war. Die Sorge war natürlich unbegründet, aber das spielte keine Rolle. Er empfand es als echte Bedrohung. Diesmal würde sie vorsichtiger sein. Würde Wes und Kellogg nicht zusammentreffen lassen, würde das Wort »Verabredung« vermeiden, würde ihm den Gedanken nahebringen, dass sie männliche und weibliche Freunde hatte, genau wie er. Mit den eigenen Kindern ist es wie mit Verdächtigen bei einem Verhör: Man sollte sie nicht belügen, aber man muss ihnen auch nicht alles erzählen.
Viel Arbeit, viel Jonglieren.
Zeit und Mühe ...
Oder ist es besser, Kellogg einfach zu vergessen und ein oder zwei Jahre zu warten, bevor ich wieder ausgehe?, grübelte sie angestrengt. Ein Dreizehn-oder Vierzehnjähriger unterscheidet sich sehr von einem Zwölfjährigen. Bis dahin würde es Wes besser gehen.
Doch Dance wollte nicht. Sie konnte nicht vergessen, was der Geschmack und die Berührungen bei ihr ausgelöst hatten. Und sie dachte an Winstons zögerliche Reaktion auf Kinder, an die Stresssignale. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass er mit Kindern nicht umgehen konnte und nun eine Beziehung mit einer Frau eingehen wollte, die gleich zwei davon hatte. Wie sollte das nur gut gehen? Vielleicht …
Halt, halt, nur nichts überstürzen.
Du hast geknutscht. Es hat dir gefallen. Das Hochzeitsmenü solltest du dir noch nicht aussuchen.
Sie lag lange Zeit wach und lauschte den Geräuschen der Natur. Die waren hier in der Gegend nie weit entfernt – gutturale Meerestiere, temperamentvolle Vögel und das beruhigende Rauschen der Brandung. Die Einsamkeit packte Kathryn Dance oft schnell wie ein Schlangenbiss, und in Momenten wie diesen war sie am anfälligsten dafür – spät im Bett, mit dem Klang der Nacht in den Ohren. Wie schön es doch war, den Geliebten neben sich zu spüren, seinen leisen Atem zu vernehmen und am Morgen aufzuwachen und zu hören, wie er aufstand, ins Bad ging und sich auf den Tag vorbereitete: eigentlich unbedeutende Laute, die der tröstliche Herzschlag eines Lebens zu zweit waren.
Kathryn Dance nahm an, dass die Sehnsucht nach diesen Dingen auf Schwäche schließen ließ, auf Abhängigkeit. Aber was war so falsch
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