Die Menschenleserin
Tagen in Carmel vor acht Jahren hatte die Frau sich fürsorglich um das Mädchen gekümmert, das jeder die Schlafpuppe nannte. Theresa wurde adoptiert, umgesiedelt, umbenannt (Theresa Bolling ; es gab Schlimmeres) und zu Dutzenden von Therapeuten geschickt, die alle sehr klug und mitfühlend waren und »Wege zum psychischen Wohlbefinden« aufzeigten, indem sie »den Trauerprozess« erforschten – »unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der Übertragung angesichts des Vorhandenseins neuer Elternfiguren«. (Achtbeste ihres Jahrgangs, immerhin.)
Manche Behandlungen halfen, andere nicht. Aber der wichtigste Faktor – die Zeit – bewies Beharrlichkeit in seiner Wirkung, und Theresa wurde zu einer anderen als die Schlafpuppe , Überlebende einer Kindheitstragödie. Sie ging gelegentlich mit Jungen aus, war Schülerin, Freundin, Tierarztassistentin, keine schlechte Sprinterin über die Fünfzig-und Hundert-Meter-Distanz sowie eine Gitarristin, die Scott Joplins »The Entertainer« spielen und die Folge verminderter Akkorde hinbekommen konnte, ohne dass eine einzige Saite quietschte.
Nun jedoch gab es einen Rückschlag. Der Killer saß nicht mehr im Gefängnis, okay. Aber das war nicht das wahre Problem. Nein, es ging um die Art, wie ihre Tante die Angelegenheit regelte. Es war, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht und Theresa sechs, sieben, o Gott, acht Jahre in die Vergangenheit geschickt. Sie fühlte sich, als wäre sie wieder die Schlafpuppe und alle Fortschritte hätten sich in Luft aufgelöst.
Kleine, Kleine, wach auf, keine Angst. Ich bin Polizistin. Siehst du meine Dienstmarke? Hol bitte deine Sachen, geh ins Badezimmer, und zieh dich an.
Ihre Tante war in Panik, gereizt, paranoid. Wie in dieser HBO-SERIE, die sie letztes Jahr drüben bei Bradley gesehen hatte. Über ein Gefängnis. Wenn dort etwas Schlimmes passierte, riegelten die Wärter den gesamten Bereich hermetisch ab.
Theresa, die Schlafpuppe , kam sich vor wie einer der Insassen. Sie saß hier fest in ihrem Hogwarts, in Mittelerde... in Oz …
Dem grünen Gefängnis.
He, das ist klasse, dachte sie sarkastisch: Daniel Pell ist aus dem Knast entkommen, und ich stecke mitten drin.
Theresa nahm wieder das Buch zur Hand und dachte an ihre nächste Klassenarbeit in Englisch. Sie las zwei weitere Zeilen.
Laaaangweilig.
Dann sah sie durch den Maschendrahtzaun am Ende des Grundstücks, dass ein Wagen langsam vorbeirollte und plötzlich bremste. Der Fahrer schien zwischen den Sträuchern hindurch in ihre Richtung zu schauen. Er zögerte kurz, und dann fuhr das Auto weiter.
Theresa stellte die Füße auf den Boden, und das Schaukeln hörte auf.
Der Wagen konnte jedem gehören. Nachbarn, einem der Kids, die schon Ferien hatten... Sie war nicht beunruhigt – jedenfalls nicht allzu sehr. Da ihre Tante eine totale Mediensperre verhängt hatte, wusste sie natürlich nicht, ob Daniel Pell mittlerweile wieder verhaftet oder zuletzt auf dem Weg nach Napa gesehen worden war. Aber das war verrückt. Dank ihrer Tante befand sie sich praktisch im Zeugenschutzprogramm. Wie sollte er sie da je finden?
Dennoch würde sie sich jetzt lieber mal zum Computer schleichen und den neuesten Stand der Dinge in Erfahrung bringen.
Ihr Magen zog sich ein winziges bisschen zusammen.
Theresa stand auf und ging auf das Haus zu.
Okay, wir sind vielleicht ein wenig nervös.
Sie drehte sich um und blickte noch einmal zu der Lücke zwischen den Büschen am anderen Ende des Grundstücks. Kein Wagen. Nichts.
Dann wandte Theresa sich wieder zum Haus um und erstarrte.
Der Mann hatte sechs Meter von ihr entfernt den Zaun überklettert, zwischen ihr und dem Haus. Er war auf den Knien neben zwei dichten Azaleen gelandet und hob soeben den Kopf. Er keuchte von der Anstrengung, und seine Hand blutete; er hatte sich an der gezackten Oberkante des fast zwei Meter hohen Maschendrahts geschnitten.
Das war er . Das war Daniel Pell!
Sie keuchte auf.
Er war doch hergekommen. Er wollte das letzte Mitglied der Familie Croyton ermorden.
Lächelnd stand er auf und ging steifbeinig auf sie zu. Theresa Croyton fing an zu weinen.
»Nein, keine Angst«, flüsterte der Mann und kam näher. »Ich werde Ihnen nichts tun. Pssst.«
Theresa spannte sich an. Sie wollte weglaufen. Na los, mach schon.
Aber ihre Beine rührten sich nicht; die Angst lähmte sie. Außerdem – wo sollte sie hin? Er stand zwischen ihr und dem Haus, und sie wusste, dass sie den Zaun nicht mit einem Satz
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