Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
kamen sie über ihre Lippen.
»Weil sie den Bürgern Venedigs vertrauten und sich ihnen verbunden fühlten. Vertrauen war immer ein wichtiger Bestandteil ihres Wesens. Sie wollten es nicht anders. Mochten ihre Körper auch aus Stein, ihr Flug schnell und ihre Gesänge voller Poesie sein, so hat man doch keinen Löwen je ein Haus bauen sehen. Sie hatten sich längst an das Dasein zwischen den Menschen gewöhnt, sie liebten Dächer über ihren Köpfen und die Bequemlichkeit einer Stadt. Und das, fürchte ich, war der Grund ihres Niedergangs.«
Merle verharrte kurz an einem schmalen Fenster, das hinaus auf die Piazza wies. Sie erschrak, als sie sah, dass sich die Zahl der Soldaten und Gardisten innerhalb der letzten Minuten vervielfacht hatte. Offenbar hatten die Ratsherren Uniformierte aus allen Vierteln zusammengezogen, vom Nachtwächter bis zum hoch dekorierten Hauptmann. Es mussten hunderte sein. Und sie alle deuteten mit Gewehren und Revolvern, sogar mit blanken Säbeln, auf den Höllenboten.
»»Lauf weiter! Beeil dich!«
Nachdem Merle sich seufzend den weiteren Stufen zugewandt hatte, fuhr die Königin in ihrer Erzählung fort: »Es konnte nicht gut gehen. Die Menschen sind nicht geschaffen, friedlich neben anderen Wesen zu existieren. Es kam, wie es kommen musste. Es begann mit Furcht. Furcht vor der Kraft der Löwen, vor ihren mächtigen Schwingen, ihren Fängen und gewaltigen Krallen. Immer mehr Menschen vergaßen, wie viel die Löwen für sie getan hatten, ja, dass Venedig ihnen allein die Vormachtstellung im Mittelmeer zu verdanken hatte. Aus Furcht wurde Hass und aus Hass der Wille, sich die Löwen endgültig Untertan zu machen - denn verzichten wollte und konnte man nicht auf sie. Unter dem Vorwand, aus Dankbarkeit ein Fest für die Löwen zu veranstalten, brachte man sie dazu, sich auf ihrer Insel zu versammeln. Schiffe transportierten unzählige Rinder und Schweine herbei, geschlachtet und ausgenommen. Die Schlachthäuser hatten die Order bekommen, alles, was sich in ihren Lagern befand, für die Feier zur Verfügung zu stellen. Dazu gab es Wein aus den besten Reben Italiens und klares Quellwasser aus den Felsen der Alpen. Zwei Tage
und zwei Nächte schlemmten die Löwen ungehemmt auf ihrer Insel, doch dann, allmählich, wurde das Schlafmittel wirksam, mit dem die hinterlistigen Venezianer das Fleisch bestrichen und mit dem sie Wasser und Wein versetzt hatten. Am dritten Tag gab es in der ganzen Lagune keinen Löwen mehr, der auf den Beinen stand, alle waren in tiefen Schlaf gefallen. Und abermals mussten die Schlachter ans Werk, und diesmal nahmen sie den Löwen die Schwingen!«
»Sie… sie haben sie ihnen einfach abge…«
» Abgehackt. Allerdings. Die Löwen bemerkten nichts davon, so stark war das Schlafmittel in ihrem Blut. Ihre Wunden wurden versorgt, sodass kaum einer an den Verletzungen starb, doch dann ließ man sie auf der Insel zurück, in der Gewissheit, dass die geschwächten Löwen gefangen waren. Löwen fürchten das Wasser, wie du weißt, und die wenigen, die versuchten, das Eiland schwimmend zu verlassen, ertranken vor Angst in den Fluten.«
Merle spürte eine solche Abscheu in sich, dass sie abermals stehen blieb. »Warum geben wir uns überhaupt solche Mühe, die Stadt zu retten? Nach allem, was die Venezianer den Löwen und dem Meervolk angetan haben! Sie haben es nicht besser verdient, als dass die Ägypter hier einfallen und alles dem Erdboden gleichmachen.«
Sie spürte, wie die Königin sanft lächelte, eine wundersame Wärme in ihrer Magengegend. »Sei nicht so verbittert, kleine Merle. Auch du bist eine Venezianerin, genau wie viele andere, die nichts von alldem wissen. Das Verbrechen an den Löwen ist schon lange her, viele Generationen.«
»Und du glaubst wirklich, die Menschen seien heute klüger?«, fragte Merle abfällig.
»Nein. Das werden sie wohl niemals sein. Aber man darf niemanden für ein Verbrechen büßen lassen, das er selbst nicht zu verantworten hat.«
»Und was ist dann mit den Meerjungfrauen, die sie vor ihre Boote spannen? Du hast selbst gesagt, dass sie alle sterben werden.«
Die Fließende Königin schwieg einen Moment. »Wenn mehr von euch davon wüssten, wenn mehr die Wahrheit kennen würden… vielleicht gäbe es dann keine solche Ungerechtigkeit mehr. «
»Du sagst, du selbst bist kein Mensch - und doch verteidigst du uns. Woher nimmst du nur diese verdammte Güte?«
»Verdammte Güte?«, wiederholte die Königin amüsiert. »Nur ein
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