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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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kostete Merle alle Kraft, sich an seiner glosenden Mähne festzuklammern. Junipa war dünn, fast mager, und das war ein Glück; nur deshalb gelang es Merle, ihrer beider Gewicht auf Vermithrax’ Rücken zu halten.
    Vermithrax war schneller als zuvor, so als hätte das Licht auch die Kraft seiner Schwingen verdoppelt. Aber er verlor einen Teil seines kostbaren Vorsprungs, als er gezwungen war, unter dem höchsten Punkt der Kuppel zu kreisen, ehe er eine Öffnung nach draußen entdeckte, eine Art Tor, das von zwei geflügelten Lilim bewacht wurde. Beide wichen angstvoll zurück, als sie ihn auf sich zukommen sahen, eine strahlende Furie, ein lebender, atmender, brüllender Komet.
    Vermithrax trug Merle und Junipa aus dem Lichtdunst der Kuppel, brach mit ihnen aus der Helligkeit hervor und schoss hinaus in den ewig roten Dämmerschein der Hölle. Nach dem extremen Gleißen im Inneren der Kuppel erschien Merle das diffuse Lavalicht des Felsendoms über Axis Mundi düster und unheimlich. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich daran zu gewöhnen.
    Sie stellte sich vor, wie Vermithrax auf die Lilim wirken musste, die sich in Gassen und auf Plätzen versammelt hatten: ein leuchtender Lichtschweif am Felsenhimmel über der Stadt, ein Wesen, wie man es selbst in der Hölle noch nicht gesehen hatte.
    Sie blickte zurück und sah wieder den wachsenden Schwarm ihrer Verfolger, der keine hundert Meter hinter ihnen aus der Kuppel schoss und dabei dünne Dunstfäden aus Licht mit sich zog, ehe diese verblassten und sich in glitzernden Staub auflösten.
    Lord Licht saß auf dem Rücken des vorderen Lilim, mit flatternden Rockschößen und wehendem Haar, das Gesicht verzerrt; einige Schläge des Sphinx hatten ihn gestreift und rote Furchen in seine Haut und Kleider gerissen.
    »Er will Vermithrax«, sagte die Königin. »Mehr als alles andere will er Vermithrax.«
    Und als hätte Junipa die Worte in Merles Kopf gehört, widersprach sie: »Er will dich, Merle. Hinter dir ist er her.« Nach einem Moment fügte sie hinzu: »Und hinter mir. Meinen Augen.«
    »Deinen Augen?«, rief Merle über ihre Schulter, während tief unter ihnen die Türme und Dächer und Kuppeln von Axis Mundi vorüberzogen und Vermithrax sich dem Spalt in der Felswand näherte.
    »Ja. Er hat Arcimboldo befohlen, sie mir einzusetzen.«
    »Aber warum du?«
    »Weißt du noch, wie ich begonnen habe, mit den Spiegelaugen zu sehen? Erst nur Umrisse und Formen, dann eure Gesichter und die ganze Umgebung. Und wie ich angefangen habe, sogar im Dunkeln zu sehen? Ich kann immer sehen, egal wo und wann, ob ich es will oder nicht.«
    Merle nickte. Natürlich erinnerte sie sich daran.
    »Damit hat es nicht aufgehört«, sagte Junipa.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich kann noch weiter sehen.« Sie klang traurig. »Immer noch weiter. Durch die Dinge hindurch und… anderswohin.«
    Merle blickte zurück zu den Lilim. Vermithrax hatte den Abstand wieder vergrößert, aber auch die Anzahl der Verfolger war angewachsen, auf fünfzig oder sechzig.
    »Anderswohin?«, wiederholte sie.
    »In andere Welten«, sagte Junipa. »Serafin hat mir erzählt, dass ihr im Wasser der Kanäle die Spiegelung einer anderen Welt gesehen habt. Dasselbe kann ich auch – ohne Kanal und ohne Wasser. Das ist der Grund, warum Lord Licht mich braucht. Ich soll für ihn in andere Welten blicken… In Welten, die ein neues Herz benötigen, hat er gesagt.«
    Merle fror plötzlich. Unvermittelt erinnerte sie sich an Winter, und sogleich überkam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die ganze Zeit über nicht an ihn gedacht hatte. Er war geflohen, hatte Burbridge behauptet. Im Stillen wünschte sie ihm alles Gute. Er hatte sich allein durch die Hölle geschlagen, bevor sie ihm begegnet waren, und er würde es wohl auch weiterhin schaffen.
    »Wohin fliegen wir?«, brüllte sie in Vermithrax’ leuchtendes Ohr.
    Vor ihnen klaffte jetzt der Spalt wie ein Schlund im Felsgestein der Hölle. »Erst mal fort aus der Stadt«, rief der Löwe. »Und dann werden wir sehen, wohin unser Führer uns bringt.«
    Sie verstand nicht. »Unser Führer?«
    Vermithrax’ Mähne vibrierte, als der mächtige Löwenschädel nickte. »Sieh genau hin!«
    Merle spähte über den glühenden Kopf hinweg nach vorn. Der Spalt war dunkler als seine Umgebung, und es war schwer, etwas darin auszumachen. Da waren ein paar fliegende Lilim, aber die meisten wichen aus, als sie Vermithrax auf sich zukommen sahen.
    Dann aber sah Merle, was er meinte:

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