Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
seine Krallen waren immer noch ausgefahren. Seine Lavaglut erfüllte das Innere der Barke mit strahlender Helligkeit, die vom Metall der Wände reflektiert wurde. Das goldene Gleißen brannte in Merles Augen, drang sogar durch ihre Lider; es kam ihr vor, als hätte man sie in Bernstein eingeschlossen.
Junipa lehnte neben ihr an der Barkenwand. Sie hatte die Augen geschlossen, aber Merle wusste, dass sie dennoch sehen konnte. Mit ihren Spiegelaugen schaute sie durch die Lider hindurch, im Hellen wie im Dunkeln, und falls Professor Burbridge die Wahrheit gesagt hatte, vermochte sie damit sogar in andere Welten zu blicken. Das war mehr, als Merle sich vorstellen konnte. Mehr, als sie sich vorstellen
wollte.
Die Aufgabe, Seth die Wahrheit über die neue Eiszeit zu berichten, war auf Merle zurückgefallen, natürlich. Vermithrax hätte sich eher die Fangzähne ziehen lassen, als dem verhassten Priester einen Wunsch zu erfüllen.
Und so hatte Merle vor dem Start von Winter erzählt, dem mysteriösen Albino, dem sie in der Hölle das Leben gerettet hatte. Winter, der behauptet hatte, er sei die Fleisch gewordene Jahreszeit, auf der Suche nach seiner verschollenen Geliebten Sommer. Sie sei Vorjahren verschwunden, hatte er gesagt, und seitdem gebe es keinen echten Sommer mehr auf der Welt, keine Julihitze und keinen brütenden Sonnenschein im August. Winter war in der Hölle nur ein einfacher Mensch gewesen, aber er hatte erzählt, wie er an der Oberfläche Eis und Schnee mit sich brachte, unter dem er das Land begrub.
Winter konnte kein lebendes Wesen berühren, ohne dass es innerhalb eines Herzschlags zu Eis gefror.
Allein Sommer, seine geliebte Sommer, widerstand diesem Fluch und hob ihn mit ihrer sengenden Hitze auf. Nur sie beide konnten einander in den Armen liegen, ohne den anderen zu töten, und es war ihr Schicksal, dass sie auf ewig zusammengehörten.
Doch jetzt war Sommer fort und Winter auf der Suche nach ihr.
Professor Burbridge - oder Lord Licht, wie er sich als Herrscher der Hölle nannte - musste Winter einen Hinweis gegeben haben, der ihn hierher gelockt hatte, nach Ägypten, zum ersten Mal seit Jahrtausenden. In seinem Gefolge hatten Schneestürme die Dünen geglättet, und tödliches Eis lag wie ein Panzer über der Wüste.
Kein Zweifel, Winter war hier gewesen. Genau wie Merle hatte er die Hölle durch das Innere der Stufenpyramide verlassen. Wohin aber führte sein Weg? Nach Norden, vermutlich, denn auch Seth steuerte die Barke nordwärts, und bislang nahm der Schnee kein Ende.
Seth hatte sich ihren Bericht angehört und sie mit keinem Wort unterbrochen. Was währenddessen hinter seiner Stirn vorging, blieb sein Geheimnis. Aber er hatte Wort gehalten: Er hatte die Barke in die Luft gebracht und ihnen damit das Leben gerettet. Es war ihm sogar gelungen, im Inneren des Luftschiffes eine trockene Wärme zu erzeugen, die von der Goldschicht an den Wänden ausging.
„Er weiß mehr über Winter, als er zugibt", sagte die Königin.
Wie kommst du darauf?, fragte Merle in Gedanken. Ihre Fähigkeit, lautlos mit der Königin zu sprechen, hatte sich in den Tagen seit ihrem Abstieg in die Hölle merklich verbessert. Sicher, es fiel ihr immer noch leichter, die Worte mit den Lippen zu formen, aber wenn sie sich konzentrierte, ging es mittlerweile auch so recht gut.
„Er ist der zweite Mann des Imperiums, der Stellvertreter des Pharaos", sagte die Königin. „Fal s die Ägypter mit Sommers Verschwinden zu tun haben, muss er davon wissen."
Sommer ist hier?
„Nun, Winter ist in Ägypten. Und er wird einen guten Grund dafür haben."
Merle sah noch einmal zu Seth hinüber. Mit seinen geschlossenen Augen und dem entspannten Gesichtsausdruck hatte er einiges von seiner äußeren Bedrohlichkeit verloren. Dennoch gab sie sich für keine Sekunde der Illusion hin, dass er etwas anderes im Sinn haben könnte, als sie alle am Ende ihrer Reise zu töten. Ihr Leben würde davon abhängen, dass Vermithrax ihm zuvorkam. Der Kampf zwischen Löwe und Priester war unausweichlich.
Seths Worte hatten Vermithrax an einer Stelle getroffen, an der er trotz all seiner Stärke ungeschützt war. Sie hatten Zweifel in ihm gesät, Zweifel an jenem einen Lichtblick, der ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft gemacht hatte. Das Wiedersehen mit seinem Volk, das er vor langer Zeit irgendwo in Afrika zurückgelassen hatte, war für Vermithrax von jeher das Ziel, der Endpunkt seiner Reise gewesen.
Und nun nagte an ihm die Furcht,
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