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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der mit schlecht gespieltem Gähnen so tat, als erwache er gerade aus tiefem Schlaf.
    Serafin und Dario durchquerten mit raschen Schritten die Gänge. Überall boten sich ähnliche Bilder: Rohre und Dampfleitungen, kunstvoll integriert in die reich verzierten Wände und Decken, an denen längst der Grünspan fraß; orientalische Teppiche, von groben Stiefeln zerschlissen; vor manchen Bullaugen Vorhänge, von Schimmel und Feuchtigkeit zernagt; und Kronleuchter, an denen Kristallstücke und ganze Arme fehlten, irgendwann abgefallen und nie ersetzt. Die einstige Pracht des Bootes war längst verkommen. Holzbordüren waren eingekerbt und mit kindischen Schnitzereien versehen, manche bei Handgemengen zu Bruch gegangen. Hier und da fehlten Glastüren vor Schränken und Fächern. Die Decken und Bodenbeläge waren voller Wein- und Rumflecken. An einigen Wandgemälden hatten die Piraten Zähne geschwärzt und Schnauzbärte dazugeschmiert.
    Die Brücke befand sich in der Spitze des Unterseebootes, hinter einem zweigeteilten Fenster, das wie ein Augenpaar hinaus in die Ozeantiefen schaute. Kapitän Calvino, gekleidet in einen rostroten Gehrock mit goldenem Kragen, ging vor den Scheiben auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und stritt sich in höchster Erregung mit jemandem, der hinter einer Säule Darios und Serafins Blicken entzogen war. Ein halbes Dutzend Männer arbeiteten an Rädern und Hebeln, die, wie das meiste an Bord, aus Bronze gefertigt waren; einer saß auf einem gepolsterten Sattel und trat schwitzend in ein Pedalenpaar, das weiß Gott welche Art von Maschinen antrieb.
    Langsamer gingen die beiden Jungen auf das Podest im vorderen Teil der Brücke zu. Calvino unterbrach seinen wütenden Marsch nicht für eine Sekunde. Im Näherkommen entdeckten sie, wer sich bei ihm befand und ihn ganz offenbar bis zur Weißglut reizte.
    Unke sah die beiden Jungen im selben Moment. Ihr breites Meerjungfrauenmaul war nicht wie üblich durch eine Maske verhüllt. Der Rucksack, in dem sie Arcimboldos Spiegelmaske aufbewahrte, hing über ihrer Schulter, ein gewohnter Anblick, denn Unke ließ ihren kostbaren Besitz keine Sekunde aus den Augen.
    „Ich kenne Boote wie dieses", wandte sie sich jetzt wieder an Calvino. „Und ich weiß, wie schnel sie sein können. Schneller jedenfalls als das, was Sie uns hier weismachen wollen."
    „Ich hab's schon tausendmal gesagt, und ich sag's noch einmal", tobte der Kapitän. Die Narbe, die seine Unterlippe spaltete und bis hinab zum Kehlkopf reichte, glühte rot vor Erregung. „Die Ägypter kontrollieren die See, und sie begnügen sich längst nicht mehr damit, nur die Wasseroberfläche nach Beute abzusuchen.
    Um schneller zu sein, müssten wir aufsteigen, und dieses Risiko werde ich nicht eingehen. Der Auftrag der Meerhexe lautet, Sie und diese Kinder nach Ägypten zu bringen - unsinnig genug, beim Klabautermann! -, aber sie hat nichts davon gesagt, dass die Sache so eilig ist. Also werden Sie es gefälligst mir überlassen, mit welcher Geschwindigkeit wir fahren."
    „Sie sind ein störrischer alter Bock, Kapitän, und es wundert mich keineswegs, dass Sie dieses Wunderwerk von einem Boot derart herunterkommen lassen. Wahrscheinlich dürfen wir uns glücklich schätzen, wenn wir überhaupt in Ägypten ankommen, bevor Ihr Müllhaufen von einem Kahn auseinander bricht."
    Calvino wirbelte herum, näherte sich Unke und blieb eine Handbreit vor ihr stehen. Drohend reckte er ihr sein narbiges Gesicht entgegen. Serafin war sicher, dass Unke jetzt die Essensreste in seinem dunklen Bart riechen konnte. „Sie mögen eine Frau sein oder ein Fischweib oder weiß der Teufel was, aber Sie werden mir nicht sagen, wie ich mein Boot zu führen habe!"
    Unke blieb unbeeindruckt, obwohl auch sie den Säbel gesehen haben musste, der am Gürtel des Kapitäns baumelte. Calvino hatte die rechte Hand wutentbrannt um den Griff gekrallt, aber noch hatte er die Klinge nicht blankgezogen. Zweifellos würde es bald so weit sein, falls Unke nicht nachgab. Was, bei allen Heiligen, tat sie da eigentlich? War es nicht vollkommen gleichgültig, ob sie Ägypten heute oder morgen oder erst übermorgen erreichten?

    Unke setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf - was bei einer Meerjungfrau in etwa so freundlich wirkt wie die geöffneten Arme eines Kraken. Ihre Haifischzähne blitzten im Licht der Gasbeleuchtung.
    „Sie sind ein Narr, Kapitän Calvino, und ich werde Ihnen sagen, weshalb."
    Serafin bemerkte, dass

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