Die Merowinger - Chlodwigs Vermächtnis
Chlotilde.
Auch Chlodwigs Ältester, Theuderich, inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt, war anwesend, er hatte zeitweise an den Verhandlungen teilgenommen. Die vier gemeinsamen Kinder des Königspaars, zwischen dreizehn und sechs, zappelten während des langen Vortrags auf ihren Stühlen. Reglos dagegen und etwas abseits saß ihre Tante Lanthild. Unter den hohen Gästen, die dem Vortrag des Künstlers sitzend beiwohnen durften, waren auch die betagten Metropoliten von Reims und Vienne, Remigius und Avitus, und der Sohn des lahmen Sigibert, Chloderich. Stehend in mehreren langen Reihen hatten sich, ihrem Rang entsprechend, die übrigen Gäste gruppiert: die Antrustionen Chlodwigs, darunter in der ersten Reihe Bobo und Jullus Sabaudus, burgundische Edle aus dem Gefolge Sigismunds, mit Sigibert gekommene Rheinfranken.
Die prächtig gewandeten Herren der byzantinischen Abordnung und die zahlreichen Bischöfe bildeten die auffallendsten Farbtupfer in der dreihundertköpfigen Gästeschar. Dabei wetteiferten sie mit den weit in der Minderzahl befindlichen Damen, Gemahlinnen und Töchtern der vornehmsten Franken. In der zweiten Reihe sah man auch die Konkubine des Königs, Donata, die immer noch schön war und nicht zu altern schien.
Der Künstler Horatius näherte sich dem Höhepunkt seines Vortrags. Er entlockte der Lyra eine rasche Folge sieghafter Töne, riss die Augen weit auf und sang:
»Da dampfte von Alamannenblut die Erde bei Straßburg,
hingesunken waren die letzten Getreuen des sterbenden Königs,
erlegen dem Heldenzorn der fränkischen Scharen
des gewaltigen Chlodwig und des grimmigen Sigibert …«
Er bekräftigte dies mit einem kurzen Feuerwerk schriller Töne und wollte fortfahren. Aber Chlodwig rief: »Warte mal! Warte! Genug davon!«
Horatius unterbrach sich sofort. Mit den Launen hochgestellter Zuhörer war er vertraut. Er drückte die Lyra an sich und maß mit einem kurzen Blick die Entfernung zum Ausgang.
»Ja?«, fragte er zaghaft. »Genug, sagtest du? Wünschst du, dass ich mich zurückziehe, Herr?«
»Was verkündest du da für einen Unsinn?«, polterte Chlodwig. »Der ›grimmige Sigibert‹? Der war mit mir in der Schlacht bei Straßburg? Meinst du den kläglichen lahmen Alten dort?«
Er deutete mit einer verächtlichen Geste auf den König der Rheinfranken, dessen linkes Bein verkrümmt war und in Lederbandagen steckte. Sigibert schoss einen empörten Blick auf Chlodwig und reckte das Kinn mit dem weißen Ziegenbart.
»Fängst du schon wieder an?«, rief er fistelnd. »Willst du mich hier vor allen beleidigen? Hast du vielleicht einen Grund dazu?«
»Du hattest so viel mit der Schlacht bei Straßburg zu tun wie meine vor fünfzig Jahren verstorbene Großmutter! Ich möchte wissen, wie so ein trauriger Hinkefuß und Hinterherschleicher in mein Heldenlied kommt!«
Der Sänger trat von einem Kothurn auf den anderen und sagte: »Ich habe nur in Verse gefasst, was ich hörte. So wurde es mir berichtet, Herr!«
»Von wem? Von ihm selber vielleicht? Oder etwa sogar von Theoderich, deinem früheren Herrn? Der hat ein Interesse, mich herabzusetzen. Hast du diesen Auftrag von ihm?«
»Aber was denkst du von mir! Ich bin Künstler! Ich rühme nur das wahre Verdienst. Parteilichkeit kenne ich nicht, ich dichte aus Überzeugung!«
»Dann ändere diesen Vers!«
»Selbstverständlich! Ich könnte ja singen:
›… erlegen dem Heldenzorn der fränkischen Scharen
des gewaltigen, grimmigen, unbesiegbaren Chlodwig!‹«
»Schon besser. Klingt aber holprig. Verschwinde und denke noch einmal darüber nach. Später komm zurück und mach weiter!«
Chlodwig gab dem Sänger ein Zeichen. Der verbeugte sich, lächelte in die Runde und stelzte hinaus. Die von dem langen Vortrag erschöpften Gäste begannen erleichtert zu plaudern.
König Sigibert der Lahme ereiferte sich noch einmal. »Wenn du behauptest, du hättest die Alamannen allein besiegt, lügst du!«, fistelte er, an Chlodwig gewandt. »Schon damals, vor neun Jahren, wurdest du nicht allein mit ihnen fertig. Hätte ich dich nicht rausgehauen, wärst du vielleicht im Rhein ersoffen!«
»Nun hört euch das an!«, höhnte Chlodwig. »Er spielt sich als mein Lebensretter auf! Dieser Krüppel will mich rausgehauen haben!«
»Weißt du denn nicht«, wandte sich die Königin Chlotilde mit kühler Freundlichkeit an den Lahmen, »dass mein Gemahl damals einen Sieghelfer hatte? Er flehte zu Gott dem Allmächtigen in der Dreifaltigkeit seines Wesens,
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