Die Merowinger - Chlodwigs Vermächtnis
zurückzubekommen, ein Bündnis gegen die Westgoten … gegen Alarich …?«
»So scheint es. Aber ich nehme an, die Burgunder wollen nicht nur Avignon zurückhaben. Sie haben auch Appetit auf Arles, auf Nîmes, auf Narbonne … alles gotisch. Sie wollen ans Meer, sie wollen Seemacht werden. Nun, meinetwegen. Wenn ich auch etwas davon haben kann … Letztens blieben mir Tours, Poitiers und Bordeaux im Halse stecken, ich musste sie wieder auskotzen. Das passiert mir nicht wieder. Beim nächsten Mal wird gründlich verdaut!«
Scylla fiel Chlodwig um den Hals und küsste ihn stürmisch.
»Oh, ich wagte nicht, darauf zu hoffen! Endlich ist es so weit! Jetzt wird er in die Knie gezwungen! Jetzt wird der Feigling dafür büßen, dass er jeden verraten hat … Syagrius, Gundobad, mich … Werdet ihr noch in diesem Jahr …?«
Chlodwig lachte. Er entblößte sein Gebiss, das schon lückenhaft war, aus dem aber einzelne Hauer umso stärker hervorragten.
»Langsam, langsam! Warum nicht gleich morgen? So etwas braucht Zeit. Wir müssen uns ja auch erst mal beschnuppern … Gundobad, Sigismund und ich. Bis jetzt haben wir uns nur gebissen. Noch lecken wir unsere Wunden, da heißt es erst einmal: Vorsicht. Wenn wir uns mit den Zähnen den Mehlsack aus Seide schnappen wollen, müssen wir aufpassen, dass wir nicht mit den Schwänzen zwischen Mühlsteinen eingeklemmt werden. Denn da lauert immer einer im Dunkeln. Und ich fürchte, der hat einen dicken Knüppel!«
»Und wenn nun hinter dem mit dem Knüppel noch einer mit dem Schwert stünde?«, sagte Scylla.
»Du meinst, um ihn mit der Schwertspitze ein bisschen am Arsch zu kitzeln? Nicht übel. Es heißt ja, ihr Griechen seid immer für eine Gemeinheit gut …«
»Nicht nur für Gemeinheiten«, schnurrte Scylla. »Auch für Freuden! Es ist schon spät, und du musst morgen früh fort. Wir sollten die Zeit bis dahin nutzen …«
Kapitel 11
»Dein Erfolg ist unsere Ehre, und jedes Mal, wenn wir eine gute Nachricht von dir empfangen, sehen wir darin einen Gewinn für das Königreich Italien. Ich schicke dir bei der Gelegenheit den Sängerpoeten, um den du mich batest. Er beherrscht seine Kunst vollendet. Möge er dich unterhalten, indem er, während seine Finger im Gleichklang mit seiner Stimme die Saiten rühren, deinen Ruhm und deine Macht verherrlicht. Wir vertrauen auf seinen Erfolg und die Inspiration, die er von dir empfangen wird.«
Dies schrieb der König Theoderich seinem Schwager Chlodwig im frühen Herbst des Jahres 506, und der Künstler, von dem die Rede war, Horatius, stand nun, knapp einen Monat später, in der großen Halle des alten Kaiserpalastes von Paris und unterhielt ein glänzendes Auditorium.
Er zupfte die Lyra, deren riesigen Resonanzboden ein Schildkrötenpanzer bildete, und sang dazu mit kraftvoller, wenn auch etwas krähender Stimme eigene Verse. Er hatte das Epos vom Untergang der Alamannen in der kurzen Zeit seines Aufenthalts am fränkischen Hofe gedichtet. So waren die Verse noch nicht ganz ausgereift, und ab und zu musste er sogar improvisieren, weil ihm die Worte noch nicht geläufig waren. Aber er tat dies mit der Gewandtheit und Eleganz des Erfahrenen.
Dazu bot er auch Augenreiz. Da er klein war, stand er auf Kothurnen, und seine Kahlheit verbarg eine riesige rotblonde Lockenperücke. Sein Mienenspiel war überaus lebhaft, bei jedem Vers zog er eine neue, zum Inhalt passende Grimasse. Er übertrieb ein wenig, aber das war verständlich. Seinen ersten großen Auftritt am fränkischen Hof wollte er unbedingt zu einem Triumph gestalten.
Drei Könige waren unter seinen Zuhörern. Neben Chlodwig, dem Gastgeber, saß Sigismund, als Vierzigjähriger ihm gleichaltrig, König der Burgunder in Genf. Der Dritte war Sigibert, »der Lahme« genannt, schon über fünfzig, König der Kölner Rheinfranken. Auf Einladung Chlodwigs waren die drei auf der Seine-Insel zusammengekommen, um einen Vierten zu treffen: Leonidas, Gesandten des Kaisers Athanasius, der seit nun fünfzehn Jahren in Konstantinopel regierte. Unten im Flusshafen schaukelte die byzantinische Staatsgaleere, mit der die Gesandtschaft am nächsten Tag die Rückreise antreten wollte. Nach erfolgreichem Abschluss der Verhandlungen war Leonidas noch einmal der Einladung des fränkischen Herrschers gefolgt, um höflich das zu dessen Ruhm gedichtete Epos anzuhören. Der junge, stattliche Diplomat, ein Verwandter des Kaisers, saß auf einem Ehrenplatz neben der Königin
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