DIE MEROWINGER: Familiengruft
stehen, seufzte, spuckte aus, seufzte nochmals.
»Was ist?«, fragte Ansoald. »Was hast du? Keinen Mut?«
»Daran fehlt es nicht. Aber wie sehe ich aus!«
»Wie ein hungriger Wolf nach einem Gewitter.«
»Verflucht! Hast du wenigstens einen Kamm? Ich habe keinen. Verliere die Dinger immer.«
Ansoald holte den langen elfenbeinernen Kamm hervor, mit dem er sorgsam sein zwar dünnes, doch anmutig gewelltes, über die Ohren fallendes Haar zu behandeln pflegte. Er musste Kraft aufwenden, um die Zähne durch die seit Tagen nicht gekämmte, zerzauste, verfilzte Merowingermähne zu ziehen. Chlodwig zuckte und fluchte.
»So geht es«, sagte Ansoald schließlich. »Jetzt müssen wir nur noch die Maske aus Staub entfernen.«
Da kein Tuch zur Hand war, nahm er seine Stirnbinde ab und reinigte mit ihr das Gesicht des Königs notdürftig.
»Zieh mal die Luft ein«, sagte Chlodwig. »Stinke ich?«
»Nicht mehr als gewöhnlich.«
Dafür bekam er einen Tritt gegen das Schienbein.
»Das ist wohl der Dank dafür, dass ich deine Braut vor dem Tod durch Erschrecken bewahre«, sagte Ansoald. »Und wenn ich dir noch einen Rat geben darf. Beherrsche dich. Falle nicht gleich über sie her. Sie ist sehr empfindsam.«
»Woher weißt du das? Wenn einer sich nicht beherrschen kann, dann bist es doch du. Hast du es etwa bei ihr versucht?«
»Lieber nicht«, sagte Ansoald feixend. »Vielleicht ist sie wirklich noch Jungfrau. Das soll ja vorkommen.«
»Ich hau dir gleich eine rein. Also los.«
»Steigst denn du nicht voran?«
»Nein, du!«
»Wenn ich doch noch vorkosten soll, musst du es aber ausdrücklich befehlen. Ich bin ja nicht mehr dein Mundschenk.«
»Vorwärts!«
Ansoald stieg die Leiter hinauf, Chlodwig folgte. Oben angekommen, gab der Gefolgsmann seinem König ein Zeichen, dass er die Gesuchte entdeckt habe.
Chlodwig blieb vorerst auf der Leiter stehen, den Kopf in Höhe der Bohlen des Wehrgangs. Er reckte den Hals. Am Ende des Mauerabschnitts bemerkte nun auch er die Gesuchte – die schmale Gestalt mit dunklem Haar, das matte Gelb ihres Kleides, das leuchtende Blau ihres Umhangs. Sie lehnte reglos, die Ellbogen aufgestützt, an der Brustwehr zwischen zwei Zinnen und blickte hinunter auf die Flusslandschaft.
Die auf der Mauer patrouillierenden Wächter kannten sie wohl bereits und hielten sich in respektvollem Abstand.
»Sie scheint in Gedanken zu sein«, sagte Chlodwig, der immer noch zögerte, auf den Wehrgang hinaufzusteigen. »Vielleicht ist es nicht gut, dass ich plötzlich neben ihr auftauche und sie anspreche.«
»Ich kann sie ja warnen«, sagte Ansoald halb ernsthaft, halb spöttisch.
»Ja, tu das … Oder nein! Nein, lass es. Ich werde mich ihr vorsichtig nähern und mich dann beizeiten bemerkbar machen.«
Chlodwig nahm nun die letzten Sprossen der Leiter, befahl seinem Comes, auf ihn zu warten, und ging langsam, Schritt für Schritt, über den Wehrgang auf sein Ziel zu. Ein Wächter, an dem er vorbeikam, riss den Mund auf, um eine Meldung zu machen, doch er bedeutete ihm heftig, zu schweigen.
Er suchte sogar das Knarren der Bohlen zu vermeiden, indem er um Stellen herumging, an denen sie sich etwas gelockert hatten. Als er nur noch drei Zinnen passieren musste, blieb er unschlüssig stehen.
Es war die Stunde des Sonnenuntergangs. Die Strahlen des sinkenden Gestirns ließen eine Unzahl von Quellwölkchen in hundert Farben schimmern, vom zarten Rosa bis zum dunkelsten Violett. Ein sanfter Wind bewegte die Wipfel der Buchen und Eichen unten am Ufer der Aisne. Silbrig glitzerte der gewaltige Bogen des Flusses.
Chlodwig lehnte sich auf eine Zinne und betrachtete die reglose Gestalt. Da sie vorgebeugt stand, war ihr Gesicht noch von der übernächsten Zinne verdeckt. Sehr schlank war sie, fast zierlich. Unter der langen Tunika sahen hübsche kleine Füße mit schmalen Fesseln hervor, die in Sandalen steckten. Ein dünner Goldreif am rechten Unterarm schien der einzige Schmuck der jungen Dame zu sein. Straff war das lange schwarze Haar nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden.
Chlodwig konnte nun kaum noch erwarten, das Gesicht seiner Braut zu sehen, von der er in diesem Augenblick nur noch acht Schritte entfernt stand. Er räusperte sich, scharrte mit den Füßen, klopfte auf seine Gürtelschnalle. Doch er erregte damit keine Aufmerksamkeit.
Wie hilfesuchend sah er sich nach Ansoald um, der ihm Zeichen gab, nicht länger zu zaudern und näher zu treten.
Nun suchte er nach einer passenden
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