Die Mission des Wanderchirurgen
Pantoffeln, die er wie seine Freunde noch immer trug, waren nicht für diese Breitengrade gemacht. Was würde ihn außerdem zu Hause auf Greenvale Castle erwarten? Viele gute Menschen, die ihn achteten und liebten, so wie er sie achtete und liebte. Nur die Eine, die Einzige, sie würde nicht mehr da sein. Arlette …
Wehmut umfing ihn. Er dachte an sie, wie er so häufig an sie dachte: mit einem Gefühl der Zärtlichkeit, der unauflöslichen Verbundenheit. Sie war von strahlender Natürlichkeit gewesen, schlank, schön, temperamentvoll. Noch heute spürte er den Duft ihrer Haare in der Nase. Und den ihrer makellosen Haut. Sie hatte sein Kind unter dem Herzen getragen, das Kind ihrer Liebe, bevor die Pestis heimtückisch über sie hereingebrochen war. Innerhalb von wenigen Tagen hatte sie Arlette und das Kind dahingerafft, und auch von ihm ein Stück getötet. Arlette, Arlette, Arlette …
Ja, sie war noch immer bei ihm, denn er trug sie in seinem Herzen. Wenn das nur nicht so wenig gewesen wäre, so verdammt wenig.
Und er dachte an seinen verstorbenen Onkel, Lord Collincourt, den richtig kennen zu lernen er kaum Gelegenheit gehabt hatte. Er dachte an Richard Catfield, seinen etwas steifen, aber umso pflichtbewussteren Gutsverwalter, an Keith, den Stallburschen, der es mittlerweile zum Stallmeister gebracht hatte, an Hartford, den Assistenten Catfields, an Marth, das Küchenmädchen, und an die vielen anderen. Auch an Mrs. Melrose dachte er, die Köchin, von der alle Welt behauptete, sie ginge zum Lachen in den Keller, damit ja niemand sehe, dass sie auch anders als grimmig dreinblicken konnte.
Ja, Mrs. Melrose war eine Festung gewesen – bis Enano, der Zwerg, gekommen war und ihr Herz im Sturm erobert hatte, eine Leistung, die niemand im Schloss für möglich gehalten hätte. Wochenlang war über das ungleiche Paar gekichert worden. Enano hatte seine »Bratwachtel« von früh bis spät umgarnt und sie mit komischen Artigkeiten und Unartigkeiten überhäuft. Wahrhaftig ein ungleiches Paar, das da entstanden war, aber den Winzling hatte das niemals angefochten, weil er bei der Köchin an der Quelle aller leiblichen Genüsse saß.
Enano. Der Zwerg, der neuerdings ein Riese war. Er kümmerte sich auffällig stark um Antonella. Ein Zeichen seines neuen Selbstbewusstseins. Bei Mrs. Melrose war es etwas anderes gewesen, sie war alt, und ihr den Hof zu machen konnte eher als Spaß gewertet werden. Aber Antonella war jung und schön, wenn auch um einiges zu dick. Sie zu umwerben hätte der Zwerg sich früher nicht getraut. Antonella. Zweifellos eine tüchtige, junge Frau. Doch irgendetwas war an ihr, das sich nicht greifen ließ. Er wusste nur nicht, was.
Vitus’ Gedanken kehrten zurück nach Greenvale Castle. Noch jemand war auf dem Schloss gewesen, ein Mann, der dort nicht hingehörte und sich dennoch erdreistet hatte, dort zu erscheinen und ihm die Erbschaft streitig zu machen. Sein Name war Hornstaple, ein Advocatus der übelsten Sorte. Er hatte behauptet, er vertrete die Interessen des Mannes seiner verschollenen Mutter, eines gewissen Warwick Throat, Leinenwebergeselle aus Worthing. Und er, Vitus, sei ohnehin nicht erbberechtigt, da keineswegs feststehe, dass er der Großneffe von Lord Collincourt sei. Man habe ihn vielmehr vor dem Klostertor von Campodios vertauscht. Also sei er nicht mehr als das Kind irgendeiner dahergelaufenen Bauersfrau.
Vitus fröstelte erneut. Seine Erinnerungen waren nicht gerade dazu angetan, ihn zu wärmen. Anhand des durch die Wolken scheinenden Mondes stellte er fest, dass Mitternacht schon vorüber war, stapfte noch ein paarmal um das Lager herum und weckte dann Fabio. Flüsternd gab er ihm die Muskete zurück und strebte dann seiner eigenen Schlafstelle zu. Müde streckte er sich neben dem Magister aus und war wenige Augenblicke später eingeschlafen.
Irgendetwas hatte Vitus geweckt. Er schreckte hoch und riss die Augen auf. Nichts. Dunkle Nacht umfing ihn. Dafür war umso mehr zu hören: Keuchen, Stöhnen und ein Schrei. Er war lang und spitz und kam von Antonella. Was war geschehen? Er hörte den Magister neben sich fluchen und Enano etwas kreischen. Eine Stimme dröhnte: »Warte, du elender Hund!« Die Stimme gehörte Fabio. Dann folgte ein ohrenbetäubendes Krachen, und er spürte einen scharfen Luftzug neben seinem Gesicht. Unwillkürlich zog er den Kopf ein. Ein Schuss! Wo war Fabio? Da, die große Masse, die mit einem Angreifer rang, das musste er sein! Er hatte
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