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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Harmonie haben. Eine eigene Harmonie.«
    Vitus nickte. »Ein gutes Stichwort, Guido. Ich denke, Harmonie ist das, was Musik und Medizin verbindet. Du sprichst von reinen Tönen, wir Ärzte von reinen Säften. Du unterscheidest vier verschiedene Hölzer, wir vier verschiedene Flüssigkeiten: das Blut, die gelbe Galle, die schwarze Galle und den Schleim. Entsteht nun irgendwo ein Missverhältnis im Säftehaushalt, versuchen wir, es zu beseitigen. Wir ›stimmen‹ den Körper neu ein, indem wir ihm helfen, sich selbst zu helfen. Schlechte Materie wird durch Eiter, Harn, Stuhl, Auswurf und anderes ausgeschieden, und wir Ärzte unterstützen den Kranken durch verstärkende Maßnahmen. Die Harmonie kehrt zurück, ein Zustand, den wir Eukrasie nennen.«
    Guido zeigte sich beeindruckt. »So einfach hat mir das noch niemand erklärt, Cirurgicus.«
    Der Magister, der die ganze Zeit ein Liedchen vor sich hingesummt hatte, rief: »Siehst du, und weil das so ist und der Abend noch lange nicht zu Ende geht, solltest du dein Instrument wieder auspacken!« Er blickte Beifall heischend in die Runde, und als alle nickten, blieb dem Geigenbauer nichts anderes übrig, als sein Instrument aufs Neue anzusetzen.
    Sie sangen gemeinsam ein paar Lieder, die allen bekannt waren, und wünschten einander anschließend eine gute Nacht. Fabio jedoch nahm Vitus noch einmal beiseite und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich habe vorher nicht darüber gesprochen, weil ich keine schlafenden Hunde wecken wollte, Cirurgicus, aber wir sind nur noch einen Tagesmarsch von Piacenza entfernt, und diese Gegend ist nicht ungefährlich. Übles Pack aus der Stadt treibt sich hier herum, meistens sind es Räuber, die es nur auf die Habe der Reisenden abgesehen haben, aber manchmal ist auch ein Schlagetot dabei. Wir müssen auf der Hut sein.«
    »Dann sollten wir eine Wache aufstellen.«
    »Das wollte ich auch gerade vorschlagen.«
    »Gut. Wenn du einverstanden bist, übernehme ich die erste Runde bis Mitternacht, danach du die zweite bis zum Morgengrauen.«
    Fabio griff Vitus an die Schulter. »Du bist in Ordnung, Cirurgicus.
In una parola:
Bei dir muss man nicht viel erklären. Das gefällt mir!«
    »Schon gut, gib mir deine Muskete und leg dich aufs Ohr. Ich wecke dich später.«
    »Kannst du mit dem Ding auch umgehen?«
    »Das kann ich.« Vitus nahm das Schießgerät entgegen und hängte es sich über den Rücken. Da der Überlandfahrer aber ein wenig zweifelnd guckte, fügte er hinzu: »Ich kann auch mit der Armbrust umgehen und den Degen führen. Ich habe schon manches Mal getötet. Eigentlich eine Schande, wenn man wie ich Arzt ist und Leben retten will. Aber ich hatte keine andere Wahl.«
    Fabio schien beruhigt. »Dann nimm auch noch einen meiner Dolche, für alle Fälle.«
    »Gut. Nun geh schlafen.« Vitus steckte die Klinge in den Gürtel und stapfte ohne ein weiteres Wort los. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er das Gelände gut überblicken konnte, jedenfalls so weit, wie das Mondlicht es gestattete. Die wenigen Büsche wirkten schwarz und unheimlich, und immer dann, wenn der Wind durch sie hindurchpfiff, konnte man meinen, sie bewegten sich und seien lebendig. Ab und zu knackte es im verglimmenden Feuer, und Schnarchtöne drangen zu ihm herüber.
    Er setzte sich auf den Stamm einer umgefallenen Weide und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Weg nach England war noch weit, aber wenn er mit den Freunden erst einmal Genua erreicht hatte, wäre das Schwerste geschafft. Mit etwas Glück würden sie ein Schiff erwischen, das sie durch die Meerenge von Gibraltar brachte und von dort weiter nach Norden bis zur Britischen Insel.
    Vitus fröstelte. Er stand auf, um ein wenig auf und ab zu gehen. Die britische Insel, England … Wenn er wieder daheim war, würde er Zeugnis ablegen müssen über den Erfolg seiner Reise. Er war losgezogen, die Pest zu besiegen. Hatte er sie besiegt? Wenn er ehrlich war, konnte nur von einem Teilerfolg die Rede sein. Denn die Vermeidung der Ansteckung war das eine – die Heilung der Seuche das andere. Und die alles entscheidende, in jedem Fall wirksame Therapie war noch nicht gefunden. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Immerhin, die Ursache der Schlange Pest war aufgeklärt – der Pestfloh. Wie der Dichter Petrarca wohl hinter das Geheimnis gekommen war? Oder besser: Gherardo, sein Bruder, der gegen alle Miasmen gefeit zu sein schien?
    Vitus stampfte ein paarmal fest auf, denn seine Füße wurden kalt. Die gelben

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