Die Mission des Wanderchirurgen
»Ein wackerer Streiter im Glauben, fürwahr, aber ein wenig starrsinnig, wenn du mich fragst.«
Vitus antwortete nicht.
»Nur gut, dass ich ihn mit Gottes Hilfe zu seinem Glück zwingen durfte.«
»Wie bitte?«
Der Magister grinste bis über beide Ohren. »Dank der Taschenspielerkünste, die mir Fabio seinerzeit beibrachte, habe ich das Ledersäckchen in seinem Gepäck versenkt, ohne dass er es bemerkte.«
»Du hast was …?«
»Genau das habe ich. Und nun: auf nach Campodios!«
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Der Arzt und Prior Thomas
»Der Grund ist: Jean lag nicht in geweihter Erde.
Tonias Mann hatte sie hinter dem Haus im Garten vergraben,
ohne priesterlichen Segen, einfach so, denn es ging ja nicht
anders. Dieser Umstand aber quälte Tonia ihr ganzes
weiteres Leben. Sie wusste, dass sie schwere Sünde auf sich geladen hatte, und wollte diese nicht mit ins Grab nehmen.«
I ch danke dir für die Überbringung der Nachrichten«, sagte Pater Thomas und blickte auf die schwere Botentasche aus Segeltuch. »Weißt du, von wem sie sind?«
Der staubbedeckte Kurier schüttelte den Kopf. »Leider nein, Vater, ich führe nur einen Auftrag aus.«
»Nun gut. Dann gehe jetzt in die Klosterküche und lass dir von Bruder Festus eine kräftige Mahlzeit geben. Mir scheint, du hast sie dir verdient. Und richte Bruder Daniel in den Ställen aus, er möge deinem Pferd eine doppelte Portion Dinkel in den Futtersack füllen.«
»Danke, Vater.« Respektvoll verbeugte sich der Kurier vor dem hageren, asketischen Mann.
»Gott sei mit dir, mein Sohn.« Thomas beachtete den Mann nicht weiter, sondern setzte sich an den Tisch in seiner bescheidenen Zelle und zog das Öllämpchen heran. Von wem mochten die Botschaften sein?
Schnell löste er die Schnüre um die Tasche und entdeckte darin drei Briefe – drei zusammengerollte und versiegelte Schriftstücke aus altersfleckigem, grobem Papier. Eines davon kam ihm bei näherer Betrachtung bekannt vor.
Thomas sah noch genauer hin – und dann wusste er es: Diesen Brief hatte er selbst geschrieben. Sein persönliches Siegel ließ keinen Zweifel zu. Allerdings war es erbrochen, was nichts anderes bedeutete, als dass die Nachricht gelesen worden war. Er hatte sie vor ziemlich genau einem Jahr aufgesetzt und nach Greenvale Castle in England geschickt.
Und nun war sie zurückgekommen. Geöffnet und neuerlich versiegelt. Thomas untersuchte den wächsernen Abdruck. Er zeigte eine Knochensäge und ein Skalpell in kreuzweiser Darstellung. Der umlaufende Schriftzug buchstabierte sich, wenn er richtig las, ANATOMUS GIROLAMUS . Seine Augen wanderten weiter über das zusammengerollte Papier und entdeckten eine Reihe von Zeichen und Vermerken, die ihm sämtlich nichts sagten. Einige davon sahen in ihrer Kalligraphie sogar arabisch aus. Nun, das konnte nur eines bedeuten: Der Brief hatte eine Reise um die halbe Welt hinter sich, bevor er wieder bei ihm, dem Absender, gelandet war. Und er war, das lag auf der Hand, von Vitus nicht gelesen worden.
Thomas war enttäuscht. Er erbrach das Siegel mit dem Schriftzug ANATOMUS GIROLAMUS und entrollte die Botschaft. Ja, kein Zweifel, das war sein Brief, in dem er seinem Lieblingsschüler von dem Geständnis der alten Tonia berichtet und ihm gleichzeitig eröffnet hatte, dass die letzte Lücke in der Beweiskette um seine adlige Herkunft geschlossen sei.
Er nahm den zweiten Brief zur Hand. Er war ebenfalls an Vitus gerichtet, wenn auch von einem anderen Absender. Der Mann hieß Catfield und hatte das Siegel von Greenvale Castle benutzt. Thomas schloss daraus, dass der Absender kein eigenes Petschaft besaß und mithin ein Bediensteter des Schlosses war. Auch der zweite Brief war geöffnet und wieder verschlossen worden.
Der dritte Brief schließlich schien ihm am interessantesten, nicht nur wegen des Siegels, auf dem nochmals der Schriftzug ANATOMUS GIROLAMUS auftauchte, sondern auch, weil er an ihn persönlich gerichtet war.
An den hochwürdigen Pater Thomas, Arzt und Prior in Campodios –
so stand es in großen Lettern außen auf dem Papier.
Er breitete das Schriftstück aus und stellte fest, dass die Nachricht in Latein gehalten war. Er las:
Hochwürdiger Pater, hochverehrter Herr Kollege,
ich darf mich Euch zunächst vorstellen: Mein Name ist Mercurio Girolamo, ich bin Professor für Anatomie an der Universität zu Padua. Dortselbst hatte ich das große Vergnügen, den Cirurgicus Vitus von Campodios und seinen Freund, den Magister der Jurisprudenz Ramiro García,
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