Die Mission des Wanderchirurgen
weilt sie nicht mehr unter den Lebenden. Gott der Allmächtige rief sie im Januar zu sich, nachdem Abt Gaudeck und ich ihr die Sterbesakramente gegeben hatten.«
»So kann also doch niemand mehr das letzte Beweisstück für meine Herkunft erbringen!«, rief Vitus. Er war kreidebleich geworden.
»Beruhige dich, ganz so ist es nicht«, versuchte Gaudeck ihn zu beschwichtigen. »Denn bevor wir Tonia die Letzte Ölung gaben, erzählte sie uns noch einmal das, was sie im März letzten Jahres schon Pater Thomas anvertraut hatte. Es war genau dieselbe Geschichte, ohne Weglassungen, ohne Hinzufügungen, was ein weiterer Beweis dafür ist, dass sie die Wahrheit sprach. Wir fertigten an Ort und Stelle ein Protokoll an, unter das sie mit ihren letzten Kräften drei Kreuze setzte. Dieses Protokoll wurde sowohl von Pater Thomas als auch von mir für die Richtigkeit gegengezeichnet. Anschließend fühlte die alte Tonia sich sehr erleichtert, und unter einem Fürbittgebet salbte ich sie und vergab ihr im Namen des Erhabenen ihre Sünden.«
Vitus hatte wie gebannt zugehört und brauchte eine Weile, um wieder klar denken zu können. »Warum hat die alte Frau das alles erst jetzt gesagt?«, fragte er dann.
»Jean, deine Mutter, war schon todkrank, als sie dich vor dem Klostertor ablegte. Anschließend schleppte sie sich zum Haus von Tonia, wo sie noch am selben Tage starb. Vorher jedoch nahm sie der Stoffweberin einen heiligen Schwur ab, zu niemandem darüber zu sprechen.«
»Das verstehe ich«, murmelte Vitus. Er musste an den durchtriebenen Advocatus Hornstaple denken, der Ende 1578 nach Greenvale Castle gekommen war, um Besitzansprüche für einen Leinenwebergesellen namens Warwick Throat anzumelden. So weit hergeholt das Ansinnen auch gewesen war, in einem hatte der Paragraphenreiter Recht gehabt: Warwick Throat konnte durchaus Vitus’ Vater sein, und selbst wenn er es nicht war, irgendwer musste schließlich dafür in Frage kommen. In jedem Fall war er, Vitus, ein Bastard, und es verwunderte nicht, dass Jean ihm im Angesicht ihres Todes eine Zukunft ohne Vorbelastungen sichern wollte.
»Das verstehe ich«, wiederholte Vitus. »Aber warum hat die alte Tonia am Ende ihren Schwur gebrochen?«
Thomas antwortete: »Der Grund ist: Jean lag nicht in geweihter Erde. Tonias Mann hatte sie hinter dem Haus im Garten vergraben, ohne priesterlichen Segen, einfach so, denn es ging ja nicht anders. Dieser Umstand aber quälte Tonia ihr ganzes weiteres Leben. Sie wusste, dass sie schwere Sünde auf sich geladen hatte, und wollte diese nicht mit ins Grab nehmen.«
Gaudeck fügte hinzu: »Selbstverständlich haben wir Jean und die Erde, in der sie liegt, in der Zwischenzeit gesegnet. Deiner Mutter ist über den Tod hinaus von Gott Absolution erteilt worden.«
»Ich danke Euch dafür, Ehrwürdiger Vater. Sagt, darf ich das Protokoll einmal sehen?«
»Gewiss.« Gaudeck schritt zu seinem Schreibtisch und entnahm einer Schublade einen großen Bogen Papier.
Vitus nahm ihn dankend entgegen und las:
Protocollum
Zur Befragung der Stoffweberin Tonia Pérez
über ein bedeutsames Geschehnis,
von ihr selbst erlebt und wie folgt
mit ihren eigenen Worten beschrieben:
Es war der 9. Tag des Monats März, anno 1556, ein Tag, bevor wir des heiligen Aemilianus gedenken, deshalb weiß ich’s noch so genau. Da kam kurz nach Tagesanbruch eine Frau zu uns auf den Hof. Sie war so schwach, dass sie fast kroch. Sie war eine Fremde, das sah ich sofort. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, aber es waren kostbare Kleider. Mein Mann lebte damals noch. Er wollte gleich den Bader holen, aber die fremde Frau lehnte es ab. »Mein Leben hat sich erfüllt«, flüsterte sie. »Mein kleiner Sohn liegt vor dem Tor des Klosters. Er hat es warm im roten Tuch. Man wird für ihn sorgen.« Diese Sätze wiederholte sie immerfort. Essen wollte sie nichts, kein Brot, keinen Käse, keine Suppe. Sie verweigerte jegliche Nahrung. »Ich will nur noch sterben«, sagte sie. Wir fragten, wer sie sei, und sie antwortete: »Ich bin eine englische Lady. Lady Jean aus dem Hause Collincourt.« Der Name klang seltsam in unseren Ohren. Deshalb musste sie ihn ein paarmal sagen, bis wir ihn genau verstanden hatten. Wir konnten kaum glauben, wen wir vor uns hatten. Aber sie trug einen Ring am Finger mit einem Wappen drauf, da haben wir’s geglaubt. Sie erzählte mit schwacher Stimme, sie habe ihr Schiff in Vigo verlassen und sei mit Kaufleuten weitergereist. Die wollten nach
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